Ausbeutung - made in Germany. Frank Mehler

Ausbeutung - made in Germany - Frank Mehler


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      »Ja, fast neun Monate lang.«

      Er schaut mich an und legt auf einmal die Stirn in Falten. »Jetzt ich verstehen. Du müssen da weg, sonst sie mehr zahlen müssen.«

      »Vermutlich«, sage ich. Natürlich weiß ich, dass es genau so ist. »Hat der Betrieb hier auch mal Zeitarbeiter übernommen?«, hake ich dennoch nach.

      »Ja, ich mich erinnern an einen. Aber der seien längst wieder weg. Nicht gut gewesen.«

      »Also, ist es derzeit nur noch ein Kommen und Gehen von Zeitarbeitern?«

      Er zuckt mit den Schultern.

      »Wie lange bist du überhaupt schon hier?«, frage ich direkt.

      »Oh, zwanzig Jahre jetzt …?«

      »Damals waren sicher noch bessere Zeiten«, sage ich so dahin und kippe den Kehrdreck in den Eimer.

      Er nickt dazu. »Wir damals hier ruhiger gearbeitet und mehr Zuschläge bekommen«, sagt er. Aber eigentlich will er mir etwas anderes sagen. »Seit so viel mit Zeitarbeit ist, ist auch schlecht für uns.«

      »Hm!«, mache ich und kehre in einer anderen Ecke weiter. Er wollte mir mit anderen Worten sagen, dass wir bei der Stammbelegschaft längst nicht mehr so willkommen sind wie noch vor Jahren, und das spüren wir jetzt. Den Personalchefs, die diese neue Arbeitspolitik ins Leben gerufen haben, traut er sich dies sicher nicht zu sagen.

      Heute bin ich beim Einnieten beschäftigt, das heißt, ich stelle Nietverbindungen zwischen zwei Metallteilen her. Mein jetziges Arbeitsgerät ist absolut klassisch – Baujahr 1932 steht darauf. Es hat also schon seine Dienste getan, als in Deutschland noch ein anderer Zeitgeist herrschte, und es arbeitet sogar nur rein mit Muskelkraft und Kraftübersetzung, sodass über ein ausgefeiltes Schneckengetriebe eine Druckkraft von bis zu 2 Tonnen erzeugt werden kann. Sonderlich schwer ist meine Aufgabe nicht: Ich lege das Werkstück auf den Nietteller, setze die Nieten ein – die Enden der Nietbolzen schauen dabei durch eine Ritze auf dem Nietteller –, und niete mit einem kräftigen Schwung am Handschwungrad des Arbeitsgerätes nacheinander die Nieten ein. Nach gut zwanzig Durchgängen hat man es locker kapiert, und dann wird es auch schon wieder monoton. Ich habe viel Zeit zum Überlegen, zum Überlegen über das Danach.

      Mein früherer Einrichter taucht plötzlich bei mir auf und fragt erstaunt: »Ach, haben sie dich jetzt hierher gesteckt?«

      »Ja, ich bin heute mit Nietverbindungen beschäftigt.«

      »Na ja, ziemlich eintönige Angelegenheit«, sagt er und kramt sogleich im ersten großen Blechschrank gegenüber an der Wand.

      »Och, für mich ist es schon eine Abwechslung«, bemerke ich. Für mich ist es immerhin was Neues, denke ich. Für ihn sicher nicht.

      »Ah, da sind ja die Messingstifte!«, sagt er erfreut und wirft den Schrank wieder hinter sich zu. Er kommt näher, schaut auf den Auftrag und grinst. »Man, Fränki, da hast du ja mindestens zwei volle Tage zu tun.« Er klopft mir auf die Schulter, geht und sagt noch: »Dann lass dir die Zeit bloß nicht zu lang werden …«

      Ich schaue ihm hinterher und frage mich: Wie locker er auf einmal ist? Ach so! fällt mir wieder ein. Er ist ja nun auch nicht mehr zuständig für mich … Ich versuche, an etwas anderes zu denken.

      Leute kommen und gehen. Meistens suchen sie in den Blechschränken nach bestimmten Metallteilen, die von anderen Zulieferern herstammen.

      »Ey, bist du ein Leiher oder hast du jetzt bei uns angefangen?«, fragt ein Mann im blauen Schlosseranzug.

      »Ich bin ein Leiher«, sage ich.

      Keine fünf Minuten später stellt ein anderer fest: »Oh, ein neues Gesicht!«

      »Ja, ich bin der Neue«, sage ich.

      Eine ganze Weile vergeht, dann aber geht die Fragerei weiter: »Von der Leihfirma?«

      »Ja, von der Leihfirma«, bestätige ich.

      Wiederum später: »Hab ich dich nicht neulich erst drüben an der Laufer-Presse gesehen?«

      »Kann sein …«

      Einer, der schon mal da war und wieder etwas sucht, fragt: »Sag mal, lohnt sich das überhaupt als Leiher?« Er reibt den Daumen und Zeigefinger aneinander, er meint das Geld damit.

      »Eigentlich nicht«, sage ich.

      »Also, zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel?«

      »Ja, so ungefähr.«

      Er rümpft die Nase und geht wieder vor zu den Kollegen. Aber er hat wenigstens einmal einen Gedanken daran verschwendet.

      Zeit verstreicht. Ich gebe mir Mühe, perfekte Nietverbindungen herzustellen.

      In der nächsten Schicht brauche ich nicht lange zu warten und werde erneut gefragt: »Schon lange hier?« Offenbar ist das so eine Standardfrage.

      »Ja und nein«, lautet meine Antwort.

      »Also, jein!«, sagt der unrasierte Typ vor mir und grinst sich einen an die Backe. »Das ist gut, Kumpel. Du musst immer positiv denken, immer positiv …«

      Der Nächste fragt genau dasselbe: »Schon lange hier?«

      »Eine Weile«, antworte ich diesmal.

      »Dann lass dir die Weile aber nicht zu lang werden.«

      Die Nr. 3 steht auf der Matte: »Kann es sein, dass wir uns vor zwei Monaten schon mal gesehen haben?«

      »Bestimmt.«

      »Ah, unser Muskelprotz hat dir da Handschuhe für den Zuschnitt mitgegeben«, erinnert er sich.

      »So wird es wohl gewesen sein …«, sage ich.

      Die Nr. 4 fragt: »Ruhige Ecke hier hinten, nicht?«

      »Na ja, eigentlich nicht.«

      Die Nr. 5 wühlt erst im Schrank. Er findet, nach was er sucht uns schaut mich dann grinsend an. Er meint: »Irgendwie erkennt man euch immer gleich an der Kleidung.«

      »Ach, echt?«

      »Ja.«

      Selbstkritisch schaue ich an mir herunter. Bisher kam mir das gar nicht so vor. Nach wie vor trage ich meine Privatsachen bei der Arbeit. Die seit Monaten versprochene Arbeitsbekleidung ist nie bei mir angekommen – beim Kollegen ebenso nicht. Stattdessen schenkte man mir einen Stoffbeutel, einen Kugelschreiber, einen lächerlichen Regenschirm und zwei Tüten Lutschbonbons: Selbstverständlich alles in Verbindung mit dem dicken Werbeslogan unserer Leihfirma. »Du meinst die Schuhe?«, bilde ich mir ein und schaue wieder zu ihm auf.

      »Nee, so allgemein.«

      Schon klar, denke ich. Er meint damit, ich bin ein armes Schwein.

      Die Nr. 6 schreit: »Scheiße! Wo sind jetzt bloß diese verdammten 11er Federringe abgeblieben?«

      Ich zucke mit den Schultern.

      »Ach so«, erinnert er sich, »ihr Externen wisst das ja eh nicht.«

      Ein jeder macht so seine eigenen Feststellungen: Allgemein merke ich, dass Stammmitarbeiter (Facharbeiter in höherer Stellung) oft besser gelaunt sind und die Arbeit in der Regel überlegter angehen. Auch sie erkennt man sofort an der Kleidung. Reine Produktionshelfer hingegen kommen meistens aus der unteren Bildungsschicht. Sie meckern und nölen häufiger als die Facharbeiter, und doch sind sie als Festangestellte rechtlich weit besser gestellt, als wir externe Leihkräfte das sind. Für Festangestellte gilt der Tarif der IG Metall. Für uns Leihkräfte der Tarif der Zeitarbeit.

      Wir von der Zeitarbeit dürfen nicht nölen, nicht beklagen und nichts bemängeln. Wir Zeitarbeiter haben lediglich abzuarbeiten, was uns aufgetragen wird. Unseren eigenen Frust dürfen wir dabei kommentarlos herunterschlucken.

      Ich schlucke


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