Im Kreuzfeuer. Christian Wehrschütz

Im Kreuzfeuer - Christian Wehrschütz


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hinaus. Korruption, fehlender Rechtsstaat und Kriminalität zählen ebenso zu den Stereotypen, die auch der Erfolgsautor Karl May nicht unwesentlich mitgeprägt haben dürfte.11) So schreibt May über den „Kampf gegen die Organisierte Kriminalität“ am Balkan:12)

      „Auf der Balkanhalbinsel hat das Räuberunwesen niemals gesteuert werden können: ja gerade in den gegenwärtigen Tagen berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, die auf die Haltlosigkeit der dortigen Zustände zurückzuführen sind.“

      „Unter den dortigen Verhältnissen ist es nicht zu verwundern, dass da, wo die verschiedenen, zuchtlosen, sich ewig befehdenden Stämme der Skipetaren ihre Wohnsitze haben, von einem wirklichen ,Recht‘ fast gar nicht gesprochen werden kann. Bei Ostromdscha beginnt das Gebiet dieser Skipetaren, die nur das eine Gesetz kennen, dass der Schwächere dem Stärkeren zu weichen hat. Wollten wir nicht den Kürzeren ziehen, so mussten wir dieses Gesetz auch für uns in Anspruch nehmen.“

      Mehr als 100 Jahre und einige Kriege später werde ich heute immer noch gefragt, wie sicher die Lage im ehemaligen Jugoslawien nun eigentlich ist, ob es gefährlich oder ohne Probleme möglich ist, in die Region zu reisen. Meine Antwort lautet stets, es ist gefährlich, allerdings wegen der Fahrweise der Bewohner, die im Westbalkan wirklich zu wünschen übrig lässt. Natürlich haben sich vor allem die Völker des ehemaligen Jugoslawien und Albaniens ihr schlechtes Image weitgehend selbst zuzuschreiben. Trotzdem ist westliche Überheblichkeit keinesfalls angebracht, weil die EU und ihre Mitglieder oft selbst jene Standards nicht erfüllen, die sie am Balkan einführen wollen. Wo sind Medienfreiheit und unabhängige Berichterstattung besser entwickelt: am Westbalkan mit seinen vielen ausländischen Medienkonzernen oder im Italien Silvio Berlusconis? Als in Slowenien die konservative Regierung mit der Brechstange versuchte, Medien unter ihre Kontrolle zu bringen, gingen viele Journalisten mit einer Petition auf die Barrikaden, die europaweit Beachtung fand. Die Regierung verlor wenige Monate später auch deshalb die Wahl, wobei für mich Slowenien überhaupt ein positives Beispiel für eine lebendige Demokratie ist, die viel mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten bietet als in vielen anderen EU-Staaten.

      Nach mehr als 40 Wahlen, die ich im ehemaligen Jugoslawien begleitet habe, muss ich mich doch fragen, wo demokratische Standards mehr zu wünschen übrigen lassen: in Albanien, Serbien oder in den USA – wenn man sich etwa an all die Probleme erinnert, die bei der ersten Wahl von George W. Bush offenbar geworden sind. Wer kontrolliert eigentlich in den USA, ob die Standards besser geworden sind, und vor allem welche Wirkung entfaltet dort ein kritischer Bericht internationaler Wahlbeobachter, der in Albanien wenigstens nicht sofort schubladisiert werden kann, weil dieses Land der EU beitreten will? Im Wahlkampf in Albanien erklärte mir die kleine, von Studenten getragene Oppositionspartei G 99, die konservative Regierung sei allein wegen Schmiergeldzahlungen beim Bau der Autobahn an die Grenze zu Kosovo untragbar. Außerdem sei der Bau viel teurer gewesen als geplant. Ich dachte an den Wiener Flughafen und musste wieder einmal zum Schluss kommen, dass die kritische Berichterstattung über Mängel und Missstände am Balkan einem nicht gerade leicht gemacht wird. Trotzdem ist eine derartige kritische Berichterstattung freilich unerlässlich; denn natürlich kann es nicht das Ziel der EU sein, die in diversen EU-Staaten herrschenden niedrigsten Standards als Maßstab für die Aufnahme neuer Mitglieder zu verwenden, wie das vielleicht bei der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien teilweise der Fall war.

      „Balkan – das war einmal gleichbedeutend mit Unverläßlichkeit, Lethargie, Korruption, Verantwortungsscheu, Mißwirtschaft, Verwischung der Kompetenzen und Grenzen in der Rechtsordnung und noch einiges mehr. Der Begriff beschränkte sich ursprünglich auf die Südoststaaten Europas. Eine nicht eben erfreuliche Entwicklung hat ihn jedoch aus seinen geographischen Grenzen herausgelöst. Vieles von dem, was seinen Inhalt ausmacht, ist in einer Art Westwanderung Bestandteil der österreichischen Politik geworden. Für diesen Prozeß wurde hier das Wort Balkanisierung gewählt; ihn zu schildern, setzt sich dieses Buch zum Ziel.“

      Was würde Vodopivec heute schreiben (müssen)? Mich erfüllt jedenfalls nach zehnjähriger Tätigkeit als Korrespondent der Eindruck mit Sorge, dass wir anstelle einer dynamischen Europäisierung des Balkans eine weit raschere Balkanisierung Europas erleben, die der realen Ausbreitung der Balkan-Stereotypen immer weniger Grenzen setzt. Gerade deswegen ist der Titel meines Buches „Im Kreuzfeuer – Am Balkan zwischen Brüssel und Belgrad“ durchaus hintergründig und zweideutig gemeint.

       Anmerkungen


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