Die Jungbrunnen-Küche. P.A. Straubinger
großer Unterschied zwischen belebten Organismen und unbelebten Dingen ist die Tatsache, dass bei unbelebten Dingen in der physischen Substanz kein Austausch stattfindet, während sie bei belebten Organismen ununterbrochen erneuert wird. Beim Menschen bilden sich täglich 50 bis 70 Milliarden neue Zellen, während die abgestorbenen ausgeschieden werden. Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorf-Schulen und der Anthroposophie, postulierte schon vor über 100 Jahren, dass der Mensch im Laufe von sieben bis acht Jahren seine gesamte physische Materie abstoße und erneuere. Dieser Sieben-Jahres-Zyklus galt lange als Mythos, wurde aber von der Zellbiologie mittlerweile mehr oder weniger bestätigt. Während wir z. B. alle paar Stunden neue weiße Blutkörperchen oder alle zwei bis fünf Wochen eine komplett neue Haut bekommen, kann es für eine neue Leber bis zu zwei Jahre dauern. Das ganze Skelett braucht zur Rundumerneuerung etwa zehn Jahre. Unterm Strich hat sich der Körper eines 80-Jährigen im Laufe seines Lebens mehrmals komplett erneuert. Das Zellmaterial eines Greises ist selbst kurz vor dem Tod noch „frisch wie ein Babypopo“. Warum dann die Falten, der Haarausfall, die Krankheiten und all der Rest an degenerativen Erscheinungen, die wir mit dem Altern verbinden?
Wir bestehen aus Billionen von Körperzellen, die sich ständig erneuern. Warum gibt es trotzdem einen körperlichen Verfall?
Auch wenn es noch viele offene Fragen gibt, wird immer offensichtlicher, dass der Prozess des Alterns vielleicht doch verlangsamt, gestoppt oder sogar umgekehrt werden könnte. Es scheint allerdings, dass die Natur genau das nicht beabsichtigt. Für das Individuum mag es tragisch sein, wenn der Körper verfällt und der Tod naht. Im Sinne der Arterhaltung ist es allerdings ein großer Vorteil, dass der einzelne Mensch nicht allzu lange lebt, sondern sich paart und dann seinen Nachkommen die Ressourcen überlässt. Durch die ständige Rekombination der Erbsubstanz kann sich die Art schneller und besser an die Umwelt anpassen. Für die Evolution sind ewig lebende, immer junge Individuen kein Vorteil – im Gegenteil: Zur genetischen Optimierung braucht es den ewigen Kreislauf von Geburt, Nachkommenschaft und Tod.
Die „unsterbliche Qualle“ Turritopsis dohrnii bleibt ewig jung.
Wie in so vielen anderen Bereichen könnte es aber auch hier sein, dass sich der Mensch irgendwann über die Natur hinwegsetzt oder ihre Prinzipien in seinem Sinne zu nutzen beginnt. Tiere wie die „unsterbliche Qualle“ Turritopsis dohrnii zeigen uns, dass der Jungbrunnen eine biologische Realität sein kann. Altersforscher wie David Sinclair von der Harvard Medical School sind der Ansicht, dass diese Prinzipien auch auf den Menschen umgelegt werden können. Für ihn ist die Frage nicht, ob, sondern nur wann sich Menschen wie die „unsterbliche Qualle“ immer wieder ein Bad im Jungbrunnen gönnen werden, um sich auf zellulärer Ebene komplett zu regenerieren. Vorerst ist das noch Zukunftsmusik. Das wachsende Verständnis über die Mechanismen des Alterns eröffnet uns dennoch Möglichkeiten, uns zu verjüngen – oder die Vergreisung der Zellen zumindest zu verlangsamen.
INFOBOX
Die „unsterbliche Qualle“ und andere alterslose Wesen
Viele niedere Organismen wie Algen, Amöben oder Süßwasserpolypen sind potenziell unsterblich, auch wenn ihre Lebenserwartung durch Fressfeinde und ökologische Veränderungen natürlich begrenzt ist. Das degenerative Altern scheint primär auf höhere Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung begrenzt zu sein, vor allem im Tierreich. Bei den Pflanzen finden wir dagegen zahlreiche hochkomplexe Organismen, die nach gegenwärtigem Kenntnisstand ebenfalls nicht altern müssen. Eine tausendjährige Stieleiche produziert jedes Jahr Blätter und Eicheln von derselben Qualität. Diese Blätter unterscheiden sich in ihrer jugendlichen Frische in nichts von denen einer nur 50-jährigen Stieleiche. Wenn der Baum stirbt, geschieht dies durch äußere Einflüsse wie einen Waldbrand, durch Pilzbefall oder weil er gefällt wird.
Besonders beeindruckend sind in diesem Zusammenhang die amerikanischen Mammutbäume. Da sie über Jahrtausende hinweg nicht aufhören zu wachsen, erreichen sie Höhen von über 100 Metern und nicht selten ein Gewicht von mehr als 2.000 Tonnen. Ihr Leben ist bedroht von Klimaveränderungen oder durch Parasiten, aber nicht, weil sie alt werden. Der älteste bekannte Baum der Erde ist übrigens „Pando“, eine amerikanische Zitterpappel im Fishlake National Forest in Utah. Mit einem Gewicht von geschätzten 6.000 Tonnen ist Pando nicht nur das älteste Lebewesen des Planeten, sondern auch das schwerste. Es existiert seit geschätzten 80.000 Jahren und treibt noch immer jedes Jahr junge Stämme aus. Sogar im Tierreich meinen Wissenschaftler einige seltene Ausnahmen entdeckt zu haben, die die Natur anscheinend vom degenerativen Altern befreit hat.
Der arktische Ozean ist die Heimat von Tieren, die schon gelebt haben, bevor Kolumbus Amerika entdeckt hat: Wissenschaftler haben einen Grönlandhai gefangen, dessen Alter auf 510 Jahre datiert wurde. Exemplare dieser Art werden erst mit 150 Jahren geschlechtsreif und wenn sie altern, dann äußerst langsam. Auch für die amerikanische Sumpfschildkröte, den Felsenbarsch Sebastes aleutianus und sogar – als einziges Säuetier – den Nacktmull wird eine sogenannte „vernachlässigbare Seneszenz“ vermutet. Im Gegensatz zu alternden Tieren bleibt ihre Sterberate mit zunehmendem Alter konstant. Die Beweisführung gestaltet sich allerdings schwierig, da auch diese Tiere in freier Wildbahn auf der Speisekarte zahlreicher Fressfeinde stehen und Opfer von Krankheiten oder Katastrophen werden können.
Im Polarmeer leben Grönlandhaie mit einem Alter von über 500 Jahren.
Ein jahrtausendealter Mammutbaum produziert noch immer die gleichen jugendlich frischen Blätter wie ein 50-jähriger Artgenosse.
Zu Tieren in Gefangenschaft fehlen noch Daten über ausreichend lange Zeiträume – das Postulat der „vernachlässigbaren Seneszenz“ wurde erst im Jahr 1990 aufgestellt. Damals hat man die unglaublichen Fähigkeiten der „unsterblichen Qualle“ Turritopsis dohrnii in ihrer Bedeutung für die Gerontologie erkannt. Wenn ihre Lebensfunktionen nachlassen, lässt sich diese unscheinbare Qualle auf den Meeresboden sinken, regeneriert ihr gesamtes Zellvolumen und bringt es in den Urzustand zurück. Wir können das Tier gleichsam beim „Bad im Jungbrunnen“ beobachten: Turritopsis dohrnii lebt ohne zeitliche Begrenzung in einem immer jungen Körper, solange sie nicht dem Katastrophentod zum Opfer fällt.
DAS MYSTERIUM DES ALTERNS
Warum altern wir? Mechanismen des körperlichen Verfalls
Altern ist ein Mysterium, das die Wissenschaft noch immer nicht zur Gänze enträtselt hat Lange verwechselte man es mit Abnützung. Stattdessen verbergen sich dahinter komplexe Entwicklungsprozesse im Dienste der Evolution. Kein Naturgesetz und kein Gen zwingen uns zum körperlichen Verfall.
Bis in die 1950er Jahre glaubte man, dass das Altern bzw. seine degenerativen Folgen im Prinzip Abnutzungsmechanismen seien. Durch die Fortschritte der Molekularbiologie musste diese Sichtweise abgelegt werden. Doch die hochkomplexen Prozesse des Verfalls im Laufe der Jahre werden bis heute nicht in ihrer Gesamtheit verstanden. Es existieren mehr als 300 unterschiedliche Theorien zum Altern und keine einzige kann die Summe an degenerativen Vorgängen, die sich im Laufe der Jahre im Organismus summieren und schließlich zum Tod führen, vollständig erklären.