Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann

Zeit wie Wasser - Christiane Höhmann


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Hella die Plastiktüten an der Tür fallen ließ und wie immer, wenn sie heimkam, »Bernd« rief, saßen Henry und Daisy immer noch da, ohne sich bewegt zu haben.

      Hella würde sich später vor allem an eins erinnern: »Ihr habt da so gesessen, so … so vielsagend. So, dass mir mit einem Schlag alles klar wurde. Ihr habt so auffällig geschwiegen, weißt du. Und dann bist du aufgestanden, bist langsam näher gekommen, hast deinen Kopf schief gelegt und die Augen auf mich gerichtet – so –«, sie setzte eine traurige Miene auf, und dann hast du den Arm gehoben und mir langsam und vorsichtig über die Wange gestrichen. Und hinter deiner Hand deine Augen …«

      »Bernd Schulze ist verstorben. Mit 51«, erzählte Henry auf dem Friedhof am nächsten Tag, »er wird bald hier sein.«

      Mutter hatte den ruhigen Mann gemocht, der hin und wieder in ihrem Haus etwas reparierte.

      »Was? So früh? Er hatte doch das Leben noch vor sich«, hätte sie gesagt.

      Es war gut zu wissen, was Mutter sagen würde, dachte Henry. Selbst heute beruhigte es ihn wieder.

      Als er ein paar Wochen später neben Hella am Grab stand, vermisste er es schon, sich zu den Pflanzen hinunterzubeugen und zu reden. Oder murmelnd auf der Bank zu sitzen, wie ein Alter, ein Hinterbliebener, der sich noch nicht daran gewöhnt hatte, dass er jetzt alleine auf der Welt war.

      So ein Verhalten kann ich mir jetzt nicht mehr erlauben, dachte Henry.

      Schwarz stand Hella gut. Ihre blonden, halblangen Haare wehten im Wind, sie wirkte wie ein junges Mädchen und stand doch mit kräftigen Beinen sicher an seiner Seite.

      Jetzt bewunderte sie die Inschrift auf dem schwarzen Marmor:

      »Ruhe sanft«, stand da, sonst nichts.

      Henry hatte alle Grabsteininschriften der Friedhöfe in der Umgebung gelesen und sich notiert, bis er sich für diese beiden Worte entscheiden konnte. Natürlich kam »Ruhe sanft« auf dem Friedhof häufig vor, aber das konnte eigentlich doch nur für diese Worte sprechen.

      Er sah von Hella zum Stein, vom Stein zu Hella. Dass sie nicht mehr jung war, war das Beste an ihr.

      Letztes Jahr hatte sie ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert. An einem sehr heißen Tag.

      Bernd stellte Mutter eine Liege in den Garten, wo er und Hella mit Henry und den anderen Nachbarn beim Barbecue unter dem Apfelbaum saßen. In sicherer Entfernung vom Apfelbaum lag Mutter den ganzen Nachmittag auf der Liege, trotz der Hitze hatte sie die Decke bis ans Kinn gezogen und starrte in den Himmel.

      Henry steckte sich gerade ein saftiges Fleischstückchen in den Mund, als sie ihn bat, ihre Kamera zu holen. Als er endlich darauf reagiert hatte, ins Haus gegangen und mit der Kamera zurückgekehrt war, richtete sie sich auf und fotografierte Hellas Rosen und den Oleander. Nach einer Weile ließ sie sich zurücksinken und fing an, das Rufen der Amseln nachzuahmen. Wieder hörte er ihre schrille Altfrauenstimme und aus dem hohen Baum ein durchdringendes, fast tonloses, lang gezogenes Piepen, wie ein Kinderweinen. Die Gäste am Tisch verstummten plötzlich und hörten es auch. Mutter antwortete den Amseljungen.

      Plötzlich wünschte sich Henry, er hätte den Vogelgesang seiner Mutter im letzten Sommer nicht als so peinlich empfunden. Eher als ein Zeichen von Leben, von Lebendigsein. Warum hatte er ihre letzten Lebensäußerungen nicht gefeiert oder zumindest begrüßt, statt sich verlegen abzuwenden?

      Weil er nicht wusste, dass es ihre letzten waren, und wenn er es gewusst hätte, wären sie ihm immer noch peinlich gewesen, vielleicht noch mehr.

      Hella kam jetzt öfter in sein Haus. Daisy hatte sich schon an die dunkle Ecke neben der Couchgarnitur gewöhnt und steuerte sie an, sobald sie mit ihrem Frauchen das Wohnzimmer betrat.

      Aber heiraten werde ich Hella nicht, dachte er und blickte fest auf den schwarzen Grabstein, heiraten sicher nicht.

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