Pfeifen!. Michael Quasthoff
Hauptsache qualifiziert für das Finale gegen Englands Großhirne.
Wie man den Schiedsrichter beurteilt, ist oft eine Frage der Perspektive. Und er wird ja ständig beobachtet: Von Spielern, den Fans im Stadion und den Zuschauern am Fernseher, vom Verbands-Obmann, von den Medien und vom Lebensabschnittspartner. Er wird kritisiert, benotet, gelobt, verdammt, manchmal hofiert und manchmal verdroschen.
Dennoch ist der Unparteiische ein Rätsel geblieben. Vielleicht auch sich selbst. Uns aber auf alle Fälle.
Dem Wesen des Schiedsrichters nachzuforschen, war trotzdem keine verlorene Zeit. Denn dem Pfeifen, seiner Passion und Profession, eignet immer auch etwas Elementares: das Wahren von Regeln, das Richten, das Schlichten und Strafen, das Eröffnen und Bewerten menschlicher Möglichkeiten. Und das alles im Schnelldurchlauf. Der Schiedsrichter ist der hechelnde Beipackzettel zivilisatorischer Konstanten, die oft schmerzhaften Nebenwirkungen inbegriffen. Als da sind: Pedanterie, Eitelkeit, Größenwahn, Sehstörungen oder der profane Wunsch, andere Menschen herumzukommandieren.
Die Gentlemanfußballer in den britischen Public Schools haben es eine Zeit lang ohne Schiedsrichter versucht. Aber die verfluchte »Sucht, gewinnen zu wollen« machte dem Experiment ein schnelles Ende. Soweit bekannt, ist die Freiburger Bunte Liga, die Mutter aller unabhängig vom DFB organisierten Freizeitfußballer, zumindest in unseren Breiten die letzte refereefreie Zone. Auch wenn mancher bunte Kicker bekennt, ab und an »den Mann in Schwarz herbeigesehnt« zu haben.
Unsere Betrachtungen sind ein Beitrag zur Kartierung des Schiedsrichterwesens, die begonnen wurde von einer Handvoll Pioniere wie Ror Wolf, Hans Blickensdörfer oder Rainer Moritz. Und ein Beitrag zur Entlastung der FIFA, die im Prachtband zum 100. Geburtstag bitter beklagt, dass es »so wenig Literatur« über den Unparteiischen gibt, »wenn man einmal absieht von einigen selbstgefälligen Autobiografien von Spitzenfunktionären«. Die wir in zumutbarer Dosierung selbstverständlich ausgewertet haben.
Dass wir den weiblichen Referees kein eigenes Kapitel gewidmet haben, ist keine Diskriminierung, sondern erstens Respekt vor dem Selbstbild der Schiedsrichterinnen, die auf dem Platz nicht anders wahrgenommen werden wollen als ihre männlichen Pendants. Zweitens schließen wir uns vorbehaltlos dem DFB an, der nicht versäumt, im Regelheft anzumerken: »Der Gebrauch der männlichen Schreibweise für die Begriffe Schiedsrichter, Schiedsrichter-Assistent, Spieler und Offizieller dient lediglich der Vereinfachung und bezieht sich selbstverständlich auch auf Frauen.«
Weder haben wir eine Historie der Fußballregeln geschrieben, noch eine des Schiedsrichterwesens. Auch die Spezies des DDR-Referees wird man vergebens suchen. Das hat zwei Gründe. Zum einen haben sie sich in der Mehrzahl nicht von ihren Kollegen im Westen unterschieden. Zum anderen findet sich über obskure Figuren wie Prokop, Stenzel, Scheurell, Roßner und Stumpf, die dem Stasi-Club BFC Dynamo Berlin zehn Jahre lang die Meisterschaft sicherten, um weiterhin im Ausland pfeifen zu können, alles Wesentliche in Hans Leskes Standardwerk Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder.
Dies oder jenes andere haben wir wahrscheinlich ebenfalls schmählich vernachlässigt. Sei’s drum. Wir haben uns mit einigen Aspekten des Themas beschäftigt, die für uns von besonderem Interesse waren. Das Werk ist als Lesebuch gedacht, dessen Kapitel für sich stehen und in der Zusammenschau, wie wir hoffen, so etwas wie eine Physiognomie des Schiedsrichters ergeben.
P.S. Wir legen Wert auf die Feststellung, dass die Idee zu diesem Buch im Jahre 2004 entstand, ein Jahr vor dem Schiedsrichter-Skandal.
Das Image der Schiedsrichter – Ein trauriges Kapitel
»Da saß er nun und fingerte und pfiff dazwischen manchmal so falsch, daß es einem durch Mark und Bein ging und man oft sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.«
Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts
»Der Mensch ein Dreck, sein Leben ein Gelächter.«
Heiner Müller: Macbeth
Wir kennen die »Einsamkeit des Torwarts« (Albert Camus) und die »Einsamkeit des Rechtsaußens« (Fernando Acitelli), wir kennen Verteidiger, die werden vom Rest der Elf schnöde im Stich gelassen und Mittelstürmer, denen fehlt jede Bindung zum Spiel. Aber »der Mann, der wirklich einsam ist,« schreibt Darwin Pastorin im Brief an meinen Sohn über Fußball, »ist er, jener Schiedsrichter, der dich in seinem gelben Trikot zum Lächeln bringt«. Der italienische Schriftsteller hält sie alle für Melancholiker. Weil Referees ihre besten Jahre auf Bolzplätzen hinbringen, »ohne Schutz, ohne Sicherheitskräfte, umgeben von unreifen Burschen und ihren wütenden Vätern, fanatischen Funktionären, brutalen, respektlosen Spielern.« Weil sie rennen, »ohne jemals an den Ball zu kommen. Ein Tor zu schießen. Oder wenigstens Beifall zu bekommen.«
Rainer Moritz, der selbst mal gepfiffen hat und heute u. a. Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft ist, also ein ausgewiesener Experte für Melancholie, sieht den Schiedsrichter eher als »Masochisten«. Ihm will nicht recht einleuchten, »warum sich verhaltensunauffällige Zeitgenossen freiwillig zum Dienst an der Pfeife melden.« Auch Hans Blickensdörfer, der Nestor des deutschen Sportjournalismus, meint, es brauche »schon eigenartige Gesellen für den Job«. Jahrzehntelange Studien am lebenden Objekt haben ihn tief blicken lassen. Sein Fazit: »Idealismus, Hilfsbereitschaft, Rechtschaffenheit, Ehrgeiz, Machthunger und auch Neid sind die Komponenten ihrer Psyche«. Neben dem »Masochismus« selbstverständlich. Insgesamt, so Blickensdörfer, »eine Mischung, die immun macht gegen die vordergründige Tatsache, dass sie von Spielern und Publikum als notwendiges Übel betrachtet werden.«
Es gibt Menschen, die den Unparteiischen mit weit weniger Bonhomie betrachten. Zum Beispiel Klaus Theweleit. Während der Arbeit an seinem Werk Tor zur Welt sinnierte der Freiburger Publizist wochenlang inspiriert wie gutartig über den »Fußball als Realitätsmodell«. Auf Seite 185 (Kapitel Verweigerung und Rechtsnormen) war’s plötzlich vorbei mit der auktorialen Souveränitat. »Willkürherrscher«, krachte es in seinen Laptop, »diktatorischer Terrormann« und »schiedsrichterliche Selbstherrlichkeit«. Einmal in Fahrt, kündigte er stante pede den »Gesellschaftsvertrag, der mich mit dem Spiel verbindet«, wütete weiter wider den »böswilligen Pfeifengott«, der die Arbeit der Spieler »mit irrwitzigen Pfiffen zunichte macht«. Dies »schändliche Überbleibsel vergangener Herrschaftsformen« mit »päpstlicher Rechteausstattung« widerspreche »jeder europäischen Rechtsnorm« und sei »ein Fall für Brüssel«. Schiedsrichter, furorte es am Ende aus Theweleit, Schiedsrichter brächten ihn schlicht »zur Weißglut«.
Da ist er nicht der Einzige. Spieler, Trainer, Journalisten, Funktionäre, Fans fluchen Woche für Woche über die scheinbar chronischen Defizite der Zunft. »Amateure, blutige Anfänger im knallharten Fußballgeschäft«, ätzt Paul Breitner, »zurück in die Pampa«, giftet Heribert Faßbender, »Tomaten-Schiris«, röhrt die Bild, »kriminelle Vereinigung«, jammert AS Rom-Präsident Franco Sensi, »Despektspersonen, Unsympathler, potentielle Päderasten«, grantelt Austria-Dichter Franzobel, jeder Fehlentscheid ein Akt nackter Gewalt, »als wenn dir einer ein Messer in den Bauch rammt, und du musst noch dabei lächeln«, deliriert Christoph Daum. »Alle hassen ihn«, sagt Eduardo Galeano. Nein, nicht Daum, den Referee. Zumindest Galeano hat gute Gründe und eine Geschichte aus Bolivien parat.
Sie handelt von Schiedsrichter Ignacio Salvatierra, der den Stürmer Abel Vaca Saucedo mit der roten Karte strafte. Nicht wegen Foulspiel, Abseits, Meckerei oder sonst einem Regelverstoß. Der begnadete Virtuose flog vom Platz, »damit er lernte, den Fußball ernst zu nehmen«. Saucedos Verbrechen war ein Zauberkunststück, »ein unverzeihliches Tor. Er spielte in einem entfesselten Wirbel von Dribblings, Selbstvorlagen, Kopfbällen und Hackentricks die gesamte gegnerische Mannschaft aus und zelebrierte den Höhepunkt seiner Orgie mit dem Rücken zum Tor, indem er den Ball mit einem sicheren Stoß seines Hinterns ins Toreck drückte.« Salvatierra habe den »Teufel Phantasie ausgetrieben«, resümiert Uruguays großer Fußball-Journalist. Für solche Referees ersann Galeano die »VFS, Vereinigung der Feinde der Schönheit«.
Im Falle Toshimitsu Yoshidas müsste sie »VFU« heißen, »Vereinigung der Feinde Usbekistans«. Im WM-Qualfikationsspiel