Ideologie, Identität, Repräsentation. Stuart Hall

Ideologie, Identität, Repräsentation - Stuart  Hall


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Tampere und Hamburg, August 2004

       Die Herausgeber

      Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr

       1. Das Problem der Ideologie im Marxismus heute

      In den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten hat die marxistische Theorie eine bemerkenswerte, aber einseitige und ungleichmäßige Wiederbelebung erfahren. Einerseits wurde sie erneut zum hauptsächlichen Gegenpol zur ›bürgerlichen‹ Gesellschaftstheorie. Andererseits sind viele junge Intellektuelle durch diese Wiederbelebung hindurch gegangen und nach einer hitzigen und raschen Lehrzeit auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Sie haben mit dem Marxismus ›ihre Rechnung beglichen‹ und sind aufgebrochen zu neuen intellektuellen Feldern – aber nicht ganz. Der Post-Marxismus bleibt eine unserer größten und blühendsten zeitgenössischen Schulen. Die Post-Marxisten verwenden marxistische Konzepte, wobei sie ständig deren Unangemessenheit demonstrieren. Tatsächlich scheinen sie noch immer auf den Schultern gerade derjenigen Theorien zu stehen, die sie soeben endgültig zerstört haben. Hätte es den Marxismus nicht gegeben, der ›Post-Marxismus‹ hätte ihn erfinden müssen, damit seine weitere ›Dekonstruktion‹ den ›Dekonstrukteuren‹ fernerhin etwas zu tun gibt. Der Marxismus erhält damit die kuriose Eigenschaft eines Lebens-nach-dem-Tode. Er wird ständig ›überwunden‹ und ›bewahrt‹. Dieser Vorgang lässt sich von nirgendwo lehrreicher beobachten als vom Standpunkt des Ideologieproblems.

      Ich beabsichtige weder, den genauen Windungen und Wendungen dieser neueren Auseinandersetzungen nachzuspüren, noch versuche ich, die sie begleitenden verschlungenen Theoriebildungen zu verfolgen. Stattdessen möchte ich die Debatten über Ideologie in den weiteren Kontext der marxistischen Theorie als ganzer stellen. Ich möchte sie auch als ein allgemeines Problem darstellen, da es sowohl ein Problem der Theorie als auch ein politisches und strategisches Problem ist. Ich möchte die schlagendsten Schwächen und Grenzen in den Formulierungen des klassischen Marxismus über Ideologie ausmachen und einschätzen, was erreicht wurde, was vergessen werden kann und was im Lichte der Kritiken festgehalten – und vielleicht umgedacht – werden muss.

      Zunächst aber: warum hielt das Ideologieproblem einen so hervorragenden Platz innerhalb der marxistischen Diskussion der letzten Jahre besetzt? Perry Anderson beobachtete in seiner Bestandsaufnahme der westeuropäischen marxistischen Intellektuellenszene (Anderson 1978) die intensive Beschäftigung dieser Kreise mit Problemen, die sich auf Philosophie, Epistemologie, Ideologie und auf die Überbauten beziehen. Er sah dann eindeutig eine Deformation in der Entwicklung marxistischen Denkens. Der Vorrang dieser Fragen im Marxismus reflektiere die allgemeine Isolation westeuropäischer marxistischer Intellektueller von den Erfordernissen politischer Massenkämpfe und -organisationen; die Abgetrenntheit ihrer »extrem schwierigen Sprache«, die »niemals durch eine direkte oder aktive Beziehung zu einem proletarischen Publikum kontrolliert« wurde (ebd., 83); ihre Distanz zur popularen Praxis und ihre fortdauernde Unterstellung unter die Herrschaft bürgerlichen Denkens. Dies resultierte, so Anderson, in einer allgemeinen Abwendung von den klassischen Themen und Problemen des reifen Marx und des Marxismus. Die übermäßige Beschäftigung mit dem Ideologischen könne als beredtes Zeichen dafür genommen werden.

      Vieles spricht für dieses Argument – was diejenigen bezeugen werden, die die theoretizistische Flutwelle im ›westlichen Marxismus‹ der letzten Jahre überlebt haben. Die Akzentsetzungen des ›westlichen Marxismus‹ mögen wohl die Erklärung sein für die Art und Weise, in der das Ideologieproblem konstruiert, wie die Debatte geführt und bis zu welchem Grad es in die Sphären spekulativer Theorie abstrahiert wurde. Dies darf aber nicht beinhalten, dass die marxistische Theorie, trotz der vom ›westlichen Marxismus‹ produzierten Verzerrungen, getrost auf ihrem festgelegten Weg fortschreitend und der einmal aufgestellten Tagesordnung folgend, das Ideologieproblem an seinem untergeordneten, zweitrangigen Platz belässt. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems hat einen objektiveren Grund. Erstens in den realen Entwicklungen der Mittel, mit denen das Massenbewusstsein geformt und transformiert wird: im massiven Anwachsen der ›Kulturindustrien‹. Zweitens in der beunruhigenden Frage der ›Zustimmung‹ der Mehrzahl der Arbeiterklasse zum System der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften in Europa und damit – entgegen aller Erwartung – deren teilweiser Stabilisierung. Selbstverständlich wird der ›Konsensus‹ nicht durch die Mechanismen der Ideologie allein aufrechterhalten. Beides kann aber nicht getrennt werden. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems spiegelt auch wirkliche theoretische Schwächen der ursprünglichen marxistischen Formulierungen über Ideologie wider. Und es wirft Licht auf einige der entscheidendsten Fragen der politischen Strategie und der Politik der sozialistischen Bewegung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.

      Beim kurzen Überblick über einige dieser Fragen möchte ich nicht so sehr die Theorie als vielmehr das Problem der Ideologie in den Vordergrund stellen. Das Problem der Ideologie ist, innerhalb einer materialistischen Theorie zu erklären, wie gesellschaftliche Ideen entstehen. Wir müssen verstehen, welche Rolle sie in einer bestimmten Gesellschaftsformation spielen, um den Kampf für die Veränderung der Gesellschaft zu orientieren und den Weg zu bahnen für eine sozialistische Transformation. Unter Ideologie verstehe ich die mentalen Rahmen – die Sprachen, Konzepte, Kategorien, Denkbilder und Vorstellungssysteme –, die verschiedene Klassen und soziale Gruppen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft einen Sinn zu geben, sie zu definieren, auszugestalten, verständlich zu machen.

      Das Ideologieproblem betrifft deshalb die Art und Weise, in der verschiedenartige Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und dadurch zur ›materiellen Gewalt‹ werden. In dieser mehr politischen Perspektive hilft uns die Ideologietheorie, zu analysieren, wie ein bestimmter Set von Ideen die gesellschaftliche Denkweise eines historischen Blocks – in Gramscis Sinne – dominiert und damit dazu beiträgt, solch einen Block von innen her zu vereinheitlichen und seine Herrschaft und Führerschaft über die Gesellschaft als ganze aufrecht zu erhalten. Es hat insbesondere etwas mit den Konzepten und Sprachen des praktischen Denkens zu tun, das eine bestimmte Form von Macht und Herrschaft stabilisiert oder das die Volksmassen an ihren untergeordneten Platz in der Gesellschaftsformation anpasst und sie mit ihm versöhnt. Es hat auch zu tun mit den Prozessen, durch die neue Bewusstseinsformen, neue Entwürfe der Welt entstehen, die die Volksmassen zur historischen Tat gegen das herrschende System bewegen. Bei einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Kämpfen stehen diese Fragen auf dem Spiel. Sie müssen geklärt werden, um das Terrain des ideologischen Kampfes besser zu verstehen und zu meistern. Dazu brauchen wir nicht nur eine Theorie, sondern eine Theorie, die der Komplexität dessen angemessen ist, was wir zu erklären versuchen.

      In den Werken von Marx und Engels ist eine solche Theorie nicht schon fix und fertig verpackt. Marx entwickelte keine allgemeine Erklärung der Funktionsweise gesellschaftlicher Ideen, die vergleichbar wäre mit seinem historischtheoretischen Werk über die ökonomischen Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise. Seine Anmerkungen auf diesem Gebiet zielten nie auf einen ›gesetzmäßigen‹ Status. Missversteht man sie als Aussagen von jener mehr theoretisch exakten Art, landet man dort, wo das Problem der Ideologie einst für den Marxismus begann. Tatsächlich erfolgte seine Theoretisierung dieses Gegenstandes viel mehr ad hoc. Folglich unterliegt der Marxsche Gebrauch des Ausdrucks ›Ideologie‹ starken Schwankungen. Heutzutage hat er – wie man an der oben von mir vorgeschlagenen Definition sehen kann – einen viel weiteren, mehr deskriptiven und weniger systematischen Bezug als in den klassischen marxistischen Texten. Wir benutzen ihn heute, um auf alle organisierten Formen gesellschaftlichen Denkens zu verweisen. Diese Verwendungsweise lässt den Grad und die Natur der ›Verzerrungen‹ dieses Denkens offen. Mit Sicherheit verweist er mehr auf den Bereich des praktischen Denkens und Urteilens (auf die Form also, in der die meisten Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und sie zur Tat bewegen können) als einfach auf gründlich ausgearbeitete und in sich konsistente ›Denksysteme‹.

      Wir meinen damit sowohl das praktische als auch theoretische Wissen, das die Leute dazu befähigt, sich die Gesellschaft ›auszugestalten‹, und in dessen Kategorien und Diskursen wir unsere objektive Positionierung in den gesellschaftlichen Verhältnissen ›ausleben‹ und ›erfahren‹.


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