Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Stuart Hall
Finanzmarktkrise, dem Ende von New Labour und dem Machtantritt einer Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten. Er schreibt dem derzeitigen Neoliberalismus die herrschaftsmächtige Fähigkeit zu, die Gesellschaft mittels einer ideologischen Arbeit der »Desartikulation und Reartikulation« zu transcodieren, gestützt durch »kulturelle Praxen der Inwertsetzung und des Individualismus« wie auch durch den Zugriff auf eine autoritäre Staatsgewalt und globale militärische Einsätze, um die Märkte und Investitionen zu schützen und die Erfolgsbedingungen für das globale kapitalistische Unternehmertum zu gewährleisten. – In Zur Deutung der Krise (2010) entfalten Stuart Hall und Doreen Massey den Hegemonie-Begriff, um damit historische und aktuelle Konjunkturen bzw. Krisenperioden, die Verknüpfung von ideologischen Strategien zur Eroberung des Alltagsverstandes sowie die bestehenden und sich verschiebenden Kräfteverhältnisse genauer zu verstehen.
Ein wiederkehrendes Untersuchungsfeld ist die Auseinandersetzung mit der Labour Party und New Labour. Ihre besondere Bedeutung erhält die Partei für Hall, weil sie einst die Repräsentation breiter popularer Klassen und Bewegungen im Staat ermöglicht und später ihre emanzipatorische Wirkungskraft im Dunst der Anpassung an Marktideologien und -politiken verloren hat. Während in Entstehung des repräsentativen/interventionistischen Staates der Aufstieg der Labour Party als organisatorische Kraft zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen ist, bietet die Krise der politischen Repräsentation seit den 1970er Jahren Anlass zu einer grundlegenden Kritik des »sozialdemokratischen Managements« der kapitalistischen Krise. In Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus (1980) kontrastiert Hall den Hegemonieverlust sozialdemokratischer Regierungspolitiken und -diskurse mit den Strategien des aufsteigenden Thatcherismus. Dem Thatcherismus sei es gelungen, sich in der Phase einer sozioökonomischen Krise auf dem Feld der popularen Ideologien als reorganisierte Kraft darzustellen. Auf der Grundlage bereits existierender Law-und-Order-Politiken der herrschenden Sozialdemokratie artikulierte der Thatcherismus einen nach rechts gewendeten ›autoritären Populismus‹, der die traditionalistischen Elemente des Alltagsverstandes der Volksmoral zu aktivieren vermochte und einen Prozess der ›passiven Revolution‹ von unten konstituierte. – Die Regierungspolitik von New Labour in den 1990er Jahren, nach der neoliberalen Transformation von Gesellschaft und Ökonomie durch den Thatcherismus, ist Kern der Analyse in den Texten Bewegung ohne Ziel (1998), New Labours doppelte Kehrtwende (2003) und »Die soziale Frage soll nicht mehr gestellt werden« (2005). Halls Diskursanalysen durchforsten die Hegemonie der neoliberalen Doktrin in Sprache und Diskursen, in Haltungen der Labour-Politiker und ihrer spezifischen Regierungsweise, in Verwaltungsmodalitäten, Kampagnen und gesellschaftspolitischen Interventionen von New Labour. Die Durchsetzung der ›Modernisierung‹ von Staat, Gesellschaft und Politik im Sinne von New Labour wurde für Hall durch eine zwingende ›Transformation der Sozialdemokratie‹ ermöglicht, die durch semantische Beliebigkeit und (passive) Zustimmung zum ›Markt-Fundamentalismus‹ zugleich eine Deformation der Partei und des Alltagsverstands der Bevölkerung war. Die ideologische Kompetenz hierfür identifiziert er in der hybriden ideologischen Strategie von New Labour: die Propagierung der kapitalistischen Marktwirtschaft, gestützt durch das Anknüpfen an den thatcheristischen ›autoritäten Populismus‹, und die untergeordnete Berücksichtung der Interessen der traditionellen Parteiflügel und der sozial Benachteiligten in der Bevölkerung.
Der Staat ist für Stuart Hall ein zentraler, strategischer Akteur und zugleich ein komplexes, institutionelles Gefüge in hegemonialen Konstellationen und Krisen-Perioden: In Der strittige Staat (1984) rekonstruiert er die Herausbildung des ›liberal-demokratischen‹ Staates und geht dabei bis auf die Ursprünge der Herausbildung staatlicher Merkmale in der Antike zurück. Das Interesse bezieht sich auf den Einfluss bereits bestehender politischer, sozialer und kultureller Hegemoniemerkmale im Zuge der Durchsetzung einer kapitalistischen Ökonomie; und Hall ergänzt diese gramscianische Analyse um die grundlegende Bedeutung patriarchaler Geschlechterverhältnisse. Im Ringen um Hegemonie veränderten sich die Diskurse um die Legitimitätsform der Staatsgewalt genauso wie die um die Reichweite der demokratischen Partizipation der ›Staatsbürger‹. Hall geht hier auch auf den Einfluss der konkurrierenden liberalen, pluralistischen und marxistischen staatstheoretischen Ansätze ein, deren Entwicklungs- und Hegemoniefähigkeit sich an den empirisch stattfindenden Veränderungen ›des Staates‹ messen müssten.
Wissenschaftlich fundierte Positionierung und Kritik ist für Hall grundlegend für eine kritisch fortzuschreibende und zu erneuernde Begriffsbildung, aber auch für ein kritisch-eingreifendes gesellschaftspolitisches Engagement. Stuart Hall nutzt 1980 eine Rezension von Nicos Poulantzas’ Buch Staatstheorie, um dessen kritisch erneuerte Positionierungen in der Auseinandersetzung mit anderen theoretischen Ansätzen, mit historischen Materialanalysen und mit empirischen Untersuchungen sich verändernder Staatsformen zu prüfen. Hall würdigt die neuen Dimensionen in Poulantzas’ Begriffsbildung, die dieser aus der Auseinandersetzung mit Michel Foucault erarbeitet habe, kritisiert aber auch, dass er die theoretischen Probleme und Widersprüche, die sich aus der Kreuzung divergenter Theorieströmungen ergeben, nicht offen dargelegt und diskutiert habe. – In Die Bedeutung des autoritären Populismus für den Thatcherismus (1985) stellt sich Hall selbst der Kritik, und zwar jener, die Bob Jessop u. a. an seiner Begriffsbesetzung von ›autoritärer Populismus‹ geäußert haben. Hall nimmt diese Kritik an und nutzt sie offen, um seine Prämissen zu überdenken, seine politische Haltung zu reflektieren und neue Erkenntnisse für eine fortzuschreibende Begriffsbildung aufzunehmen. Er weist die Kritik aber auch zurück, indem er darlegt, dass einige wesentliche Argumente von Jessop u. a. theoretisch verkürzt, verfehlt oder überbewertet sind, was Hall dazu veranlasst, seine eigenen ideologie- und hegemonietheoretischen Argumentationen zum ›autoritären Populismus‹ bekräftigend darzulegen.
In dem Interview »Jeder muss ein bisschen aussehen wie ein Amerikaner« greift Stuart Hall sein zentrales Anliegen der Theoretisierung und Politisierung des Kulturellen wieder auf und äußert sich zur Bedeutung des Kulturellen fürs Verstehen der Gesellschaft (2007): Eine Analyse historischer und umbrechender ökonomischer und politischer Verhältnisse und der entsprechenden Veränderung der Haltungen und Praxen gesellschaftlicher Akteure ist ohne Einbeziehung des Kulturellen nicht zu denken, ebensowenig die Formulierung menschenwürdiger Lebensperspektiven und demokratischer Gestaltungsverhältnisse, die Gerechtigkeit und Diversität zusammendenken. Hall hebt insbesondere die Bedeutung des Imaginären für das Verstehen des subjektiven Alltagsverstandes und kollektiver Handlungsbegründungen heraus; und diskutiert die für ihn bedeutende Verknüpfung von Kultur bzw. von Cultural Studies und politischer Sujektivität, die durch den neoliberalen Konsumismus umgeformt, gar zersetzt werde.
Wir danken allen Übersetzerinnen und Übersetzern für ihre Beiträge, ohne die das Buch nicht zustande gekommen wäre. Für ihre Unterstützung bei der Planung und Umsetzung des fünften Bandes der Ausgewählten Schriften von Stuart Hall danken wir Thomas Barfuss und Ines Langemeyer.
Hamburg, Tampere und Wien, November 2013
Die Herausgeber
Der strittige Staat
Der Staat ist eine historische Erscheinung: er ist ein Produkt gesellschaftlicher Vereinigung – von Frauen und Männern, die in organisierter Weise zusammenleben; der Staat ist kein natürliches Produkt. Es gab Zeiten, in denen ›der Staat‹ – so wie wir ihn kennen – nicht existierte. Clans und Sippschaften der Frühgeschichte, semi-nomadische Völker oder sesshafte Stämme mit sehr einfachen Formen sozialer Organisation, sie alle bildeten das heraus, was wir heute Gesellschaft nennen – ohne einen Staat zu besitzen. Hieraus muss noch lange nicht geschlussfolgert werden, dass sie führerlos sind oder dass es ihnen an geregelten Verfahren der Auseinandersetzung mangelt. Ordnung und soziale Kontrolle lassen sich durch viele andere Mittel und Möglichkeiten aufrechterhalten als durch eine zentralisierte Autorität oder einen Regierungsapparat. Gewohnheit und Brauch können die gleiche zwingende Macht über menschliches Verhalten erlangen wie das kodifizierte Recht. In einigen staatenlosen Gesellschaften nimmt der Vorstand des Haushaltes oder nehmen Anführer von Abstammungsgruppen die Funktion von Regelungsverfahren ein, ohne die Grundlage einer dauerhaften Herrschaftsordnung herauszubilden.
Diesen Kontrast mit ›staatenlosen Gesellschaften‹ zu bilden hilft uns festzulegen, was der Staat ist. Simon Roberts (1981) definiert den Staat folgendermaßen: »eine