Tina Modotti. Christiane Barckhausen
jungen Mädchen zahllose neue Eindrücke und Erfahrungen, aber zuhause, bei Vater und Schwester, fand sie stets ein Stück Heimat. Die Ereignisse, die in jenen Jahren das Land und vor allem die Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung erregten, waren auch Thema der abendlichen Gespräche am Küchentisch der Modottis. Streiks und Aussperrungen waren an der Tagesordnung, und die Sympathien der Modottis lagen auf Seiten der »Wobblies«, der Mitglieder der mächtigen »Industrial Workers of the World (IWW)«. Bei Ausbruch des Weltkrieges verweigerten zahlreiche junge Nordamerikaner den Dienst in der Armee und entzogen sich der Rekrutierung durch Flucht ins benachbarte Mexiko, und auch ihnen galt die Anteilnahme des Sozialisten Giuseppe Modotti und seiner Töchter. US-amerikanische Polizeiakten der zwanziger Jahre bezeichnen die ganze Familie Modotti als »aktiv antifaschistisch«.
Im Jahre 1915 lernte Tina Modotti den Maler und Dichter Roubaix de L’Abrie Richey kennen. Er war sechs Jahre älter als sie, von schwacher Gesundheit und von Todessehnsucht und Todesfurcht zugleich erfüllt. Tina selbst schrieb 1922 über den Mann, mit dem sie 1917 nach Los Angeles übersiedelte:
»Niemals Teil einer Menschenmenge – und auch nicht glücklich in einer solchen – fühlte er sich am wohlsten in Gesellschaft weniger enger und verständnisvoller Freunde. Wie alle sensiblen Menschen mit feiner Aufnahmefähigkeit zog er sich in sich selbst zurück, sobald er nur den geringsten Antagonismus spürte; aber sein Herz floss über von Zärtlichkeit und Freude, und das Beste von ihm trat zutage, wenn er einen verwandten Geist traf…«
Eine solche Geistesverwandtschaft scheint die Grundlage gewesen zu sein, auf der sich zwischen Tina und Robo eine Liebe entwickelte, die nicht vordergründig von Sexualität und körperlicher Leidenschaft geprägt war. Vielleicht war bei Tina auch das Mitgefühl ein bestimmendes Element. Mitgefühl mit dem jungen Mann, der das Schöne suchte und wohl als Erster erkannte, welche schöpferischen Fähigkeiten in seiner lebhaften, neugierigen und lebenslustigen jungen Frau verborgen lagen.
In ihrem Atelier in Pasadena, in dem Robo und Tina gemeinsam Batiken und Puppen herstellten, empfingen sie auch ihre Freunde, mit denen sie in endlosen nächtlichen Gesprächen über alle neuen Strömungen in Kunst, Kultur und Philosophie diskutierten. Für Tina muss dies ein anregender Kreis gewesen sein, der ihr Einblick in Lebensweisen, Haltungen, Weltsichten und Interessengebiete bot, von denen sie bislang nichts geahnt hatte. Sie verschlang die Bücher, von denen die Freunde erzählten, und lauschte fasziniert den Berichten über die ersten Kommunen, in denen Gleichgesinnte zusammen lebten und eine gemeinschaftliche Kindererziehung ausprobierten.
Sie nahm begierig Nachrichten aus fernen Ländern auf, zunächst aus Japan, das damals eine besondere Anziehungskraft auf die jungen kalifornischen Künstler ausübte, dann aber auch aus Russland, wo die Arbeiter und Bauern die Macht übernommen hatten. In jener Zeit schrieb sie auch ein Gedicht, das 1923 in der Zeitschrift THE DIAL veröffentlicht wurde:
Ich baumle gern am Himmel und falle auf Europa nieder.
Ich springe wieder hoch wie ein Gummiball, greife mit einer Hand hinab zum Dach des Kreml, stehle einen Ziegel und werfe ihn dem Kaiser zu.
Sei brav: Ich werde den Mond in drei Teile teilen, der größte wird dir gehören.
Iß ihn nicht zu schnell.
Auch Robo war politisch aufgeschlossen; er stand dem Anarchismus nahe und zeichnete zwei Mal Karikaturen für ein kommunistisches Magazin, das der US-Amerikaner Linn A. E. Gale in Mexiko in englischer Sprache herausgab.
Noch war sich Tina nicht sicher, wo sie den Schöpferdrang, den sie verspürte, am besten ausleben sollte, und so versuchte sie ihr Glück als Schauspielerin im nahegelegenen Hollywood. Bekannt sind bis heute drei Filme, in denen sie die Exotin darstellen musste und für die man sie nur ihres Körpers wegen engagiert hatte. Aber die Oberflächlichkeit und Hektik des Lebens in der Filmstadt überzeugten sie sehr bald davon, dass dies nicht die Selbstverwirklichung war, nach der sie suchte.
Als sich der Mexikaner Ricardo Gómez Robelo dem Freundeskreis um Robo und Tina anschloss, verloren Japan und die japanische Lebensweise schlagartig an Faszination. Plötzlich wurde den jungen Künstlern bewusst, dass im benachbarten Mexiko kürzlich eine Revolution zu Ende gegangen war, eine tiefe Umwälzung des gesellschaftlichen Systems, die gerade auf dem Gebiet der Kultur und der Kunst einschneidende Neuerungen mit sich gebracht hatte: da wurden Lehrer in die entferntesten Dörfer geschickt, um Bauern und Landarbeiter das Lesen und Schreiben zu lehren, da wurden die Werke der Klassiker und die Schriften der Antike in billigen Volksausgaben verlegt, da erhob sich Kritik an einer Kunst, einer Malerei vor allem, die nur den wenigen Reichen vorbehalten war.
Nicht lange, und die Freunde schmiedeten Pläne für eine gemeinsame Übersiedlung nach Mexiko. Dort würden sie, davon waren sie mehr und mehr überzeugt, ihre Vorstellungen von einem anderen Leben und einer anderen, von breiten Massen geschätzten und geachteten Kunst, verwirklichen können.
Aber gerade jetzt, da es eine greifbar nahe Perspektive für die Realisierung aller Träume gab, war Tina mit anderen Dingen beschäftigt. Anfang 1921 hatte sich dem Freundeskreis ein Mann angeschlossen, den sie von der ersten Begegnung an bewunderte und für den sie bald eine ganz anders geartete Liebe empfand als die, die sie für Robo verspürte.
Der Fotograf Edward Weston war zehn Jahre älter als Tina und beeindruckte sie durch seine Entschlossenheit, zugunsten künstlerischer Experimente auf die sichere Einnahmequelle der Porträtfotografie zu verzichten. Anders als Robo, der Träumer, war Weston ein Mann voller Energie und Lebensfreude, und zu einem erfüllten Leben zählte für ihn auch die ausgelebte, ungefesselte Sexualität als Quelle und Spenderin von Kreativität.
Die Liebe zu Weston stürzte über Tina herein wie eine Naturgewalt, der sie sich nicht entziehen konnte und wollte. Die freie Liebe und ein Geschlechterverhältnis ohne Besitzanspruch waren auch von der russischen Revolutionären Alexandra Kollontai bei einer Vortragsreise durch die USA propagiert worden. Sie gehörten zu den Maximen, nach denen Robo, Tina und die Freunde lebten. Die Liebe zu Weston hatte nichts zu tun mit der Liebe zu Robo und konnte sie auch nicht verdrängen. Wenn Tina diese neue Liebe auslebte und sich ihr stellte, dann akzeptierte sie einfach eine andere, bisher noch nicht entdeckte Seite ihrer Persönlichkeit. Es scheint sicher, dass das Verhältnis zwischen Tina und Weston Robo nicht verborgen blieb, dass er es akzeptierte und dass nicht einmal seine Freundschaft zu dem Fotografen darunter litt. Und da Weston verheiratet war und vier Söhne hatte, stand eine feste Bindung an Tina auch niemals auf der Tagesordnung.
Als Robo im Dezember 1921 den Zug nach Mexiko nahm, um herauszufinden, ob der Plan einer definitiven Übersiedlung tatsächlich realisiert werden konnte, blieb Tina in Kalifornien und entschloss sich erst Anfang Februar 1922, ihrem Mann nach Mexiko zu folgen, aber im Augenblick der Abreise erhielt sie die telegrafische Nachricht, dass Robo am 9. Februar an Pocken gestorben sei. Sie reiste dennoch zusammen mit ihrer Schwiegermutter Rose Richey nach Mexiko, um Robo in dem Land zu beerdigen, in dem er sich der Verwirklichung seiner Träume nahe gefühlt hatte.
Der kurze Aufenthalt in Mexiko und die Begegnung mit Künstlern wie Diego Riviera, Xavier Guerrero und Clemente Orozco überzeugten Tina davon, dass sie in diesem Land ihre Kreativität freisetzen und einen Weg finden konnte, der ihrer Veranlagung und ihren Ideen entsprach. Die Tatsache, dass einen Monat nach dem Tode Robos auch ihr Vater starb, muss ihren Entschluss noch gefestigt haben. Im Sommer 1923 gelang es ihr, Edward Weston zur Abreise zu bewegen. Um sich vor seiner Frau zu rechtfertigten erklärte der Fotograf, Tina würde in Mexiko sein Studio betreuen und ihm den Haushalt führen. Als »Gegenleistung« würde er sie im Fotografieren unterrichten.
Die Zeit, die Tina Modotti und Edward Weston gemeinsam in Mexiko verbrachten, ist in Westons Tagebüchern ausführlich dokumentiert. Gemeinsame Erkundungen von Land und Leuten, Begegnungen mit mexikanischen Künstlern, Intellektuellen und Politikern, die Anerkennung, die ihre fotografischen Arbeiten in der Öffentlichkeit fanden, ihre unterschiedlichen Haltungen gegenüber den politischen Ereignissen im Lande, das ständige Auf und Ab ihrer Beziehung – all dies könnte ein ganzes Buch füllen.
Besonders auffällig ist die Tatsache, dass Tinas Entwicklung sich in dieser Zeit nicht nur unter dem Einfluss, sondern