Das große Still-Kompendium. Andrew Taylor Still

Das große Still-Kompendium - Andrew Taylor Still


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von Gesundheit und Krankheit zusammenhängend darstellen (im Falle Stills: detailliert mit allen Möglichkeiten des vor dem Hintergrund möglicher Fehlstellungen des Skeletts, der Muskeln und der Bänder störungsanfälligen Verhältnisses von nerve fluids bzw. nerve action und body fluids) und im Anschluss vielleicht zu den Prinzipien markante Behandlungsbeispiele anführen – oder

      (2) leserbezogen. Dann sucht man nach einem Darstellungsprinzip, mit dem die Lesenden (Behandler/innen und Laien) die entsprechende Krankheit finden, erschließen und beurteilen können. Selbstverständlich muss auch diese Darstellungsweise die Prinzipien von Gesundheit und Krankheit berücksichtigen, jetzt aber ganz praxisorientiert.

      Still ist den zweiten Weg gegangen. Er versucht den Körper in Unterteilungen zu gliedern und Krankheiten bzw. Behandlungen auf diese Unterteilungen zu beziehen. In Forschung und Praxis liegt der reifste Entwurf vor. Danach gäbe es sieben solcher Unterteilungen des Körpers (Kopf, Rachen und Nacken, Brustkorb, Abdomen, die Bereiche oberhalb des Zwerchfells und unterhalb des Zwerchfells, dazu der spinale Bereich).46 Hinzu kommen aber noch Krankheiten und Behandlungsweisen, die mit diesem Muster nicht klassifiziert werden können oder jedenfalls aus praktischen Gründen nicht sollen. Eine eigene Abteilung stellen die Geburtshilfe und die Ansätze zur Kinderheilkunde dar. Am Anfang und Ende der Bücher stellt Still stets die Prinzipien dar und diskutiert sie philosophisch. Der Autor geht daher pragmatisch vor und hat didaktisch die Praktiker, aber auch die interessierten Patienten im Blick. Sie sollen erschließen können, worum es geht und wie behandelt werden muss. Beide überprüfen dann praktisch, ob das von Still Vorgetragene wahr ist. Der Patient erfährt es, wenn die Behandlung aus seiner Sicht erfolgreich war, er sich also gut fühlt. Und dies ist auch der Maßstab des Erfolgs des Behandelnden. Es gibt hier tatsächlich eine auffällige Parallele zu pragmatistischen Erwägungen:

       Wenn wir von der Wahrheit sprechen, so sprechen wir unserer Theorie gemäß von Wahrheiten in der Mehrzahl, von Führungen, die sich im Gebiete der Tatsachen abspielen und die nur die eine Eigenschaft gemeinsam haben, dass sie sich lohnen. Sie lohnen sich eben deshalb, weil sie uns zu dem Teile eines Systems hinführen, das an verschiedenen Punkten in die Sinneswahrnehmungen eindringt, die wir in Gedanken abbilden können oder nicht können, mit denen wir aber jedenfalls in derjenigen Art von Verkehr stehen, die man allgemein als Verifikation bezeichnet. Wahrheit ist für uns ein allgemeiner Name für Verifikationsprozesse, so wie Gesundheit, Reichtum, Körperkraft Namen für andere Prozesse sind, denen man nachstrebt, weil es sich lohnt, ihnen nachzustreben. Die Wahrheit wird im Laufe der Erfahrungen erzeugt, so wie die Gesundheit, der Reichtum, die Körperkraft erzeugt wird. 47

      Dr. Martin Pöttner

       Heidelberg, den 21. Juli 2005

      EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS (2005)

      Zugegeben: Stills Texte richtig zu verstehen ist mentale Schwerstarbeit. Die vorigen Ausführungen von Herrn Dr. Pöttner belegen jedenfalls, dass es mit einem einfachen Querlesen der vorliegenden Texte nicht getan ist. Dazu entpuppen sich Sprache und Gedanken Stills bei genauerer Betrachtung als viel zu komplex. Da aber insbesondere jüngere Vertreter therapeutischer Berufe kaum noch einen Zugang zu derartig geisteswissenschaftlich durchdrungenen Texten haben, möchte ich zusätzlich noch ein knappes Panoptikum bunt gemischter Aspekte aus meiner Sicht als Physiotherapeut und Arzt anbieten, das dem Leser helfen soll, sich besser in den Menschen Still zu versetzen.48 Die Zusammenstellung schließt zwar wesentliche Fragestellungen ein, die seit dem Erscheinen der Erstauflage vor drei Jahren an mich herangetragen wurden, sie erhebt aber keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit. Die meisten Ausführungen sind belegbar, andere basieren lediglich auf Indizien.

      Da ich der festen Überzeugung bin, dass das Überleben der außergewöhnlichen Philosophie Stills ganz wesentlich von einer (selbst)kritischen laut und öffentlich geführten Diskussion über seine Person, sein Lebenswerk und seine Philosophie sowie deren Bedeutung für die heutige Medizin abhängt, habe ich mich zudem entschlossen auch ganz persönliche Spekulationen meinerseits einzubringen.

      GESCHICHTE

      Wer Stills osteopathischer Philosophie wirklich nahe kommen möchte, wird nicht umhin kommen, sich ausführlicher mit der Zeit und den Umständen zu beschäftigen, in denen Still gelebt und gewirkt hat. Ohne eine zumindest rudimentäre Kenntnis insbesondere des ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘, des Methodismus, der zweiten Industralisierungswelle, der Evolutionstheorie Spencers und den vielfältigen politischen Freiheitsbestrebungen gerade im Grenzland Amerikas im 19.Jahrhundert, dürfte ein tieferes Verständnis der Texte jedenfalls erheblich schwerer fallen. Einen leichten Einstieg in alle wichtigen Themenbereiche bietet die Still-Biografie von Carol Trowbridge, einer langjährigen Mitarbeiterin des Still National Osteopathic Museum in Kirksville, Missouri.49

      Für Still, wie auch für die meisten Menschen, ist die Tatsache, dass der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit darstellt, unbestritten. Aber Still geht noch weiter und fordert dies auch im therapeutischen Handeln und Denken der Osteopathen ein. Aus dem allmächtigen medizinischen ‚Macher‘ wird ein osteopathischer ‚Mittler‘, der die Natur als eigentlichen ‚Heiler‘ anerkennt. Dieser Wandel zur inneren Bescheidenheit, das Zerstören des therapeutischen Egos zu Gunsten eines humanistischen Miteinanders, bildet bis heute die größte Herausforderung für jeden einzelnen Behandler.

      Fakt bleibt: Die klassische Osteopathie und die moderne Medizin mit Ausnahme des psychosomatischen Zweiges stehen sich bezüglich der Bedeutung der Spiritualität für die Behandlung nach wie vor fast diametral gegenüber. Die zunehmende Etablierung des Begriffs ‚Osteopathische Medizin‘ insbesondere in orthopädischen und allgemeinmedizinischen Kreisen zeugt daher entweder von Unkenntnis oder Desinteresse an der tieferen Bedeutung der Osteopathie – was noch entschuldbar wäre – oder aber von kalkulierten machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Dass diese Geisteshaltung langfristig dem Ansehen und damit auch dem Marktwert der gesamten Osteopathie und damit auch der ‚Osteopathischen Medizin‘ schaden wird, ist bereits offenkundig.

      Elektrizität gehört inzwischen so selbstverständlich zu unserem Alltag, dass wir kaum noch nachvollziehen können, welche enorme Wirkung sie auf die Menschen insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert gehabt haben mag. Tatsächlich gehört die Elektrizität wie auch Wasser und Licht im Zusammenhang nach wie vor zu den rätselhaftesten Phänomenen der Natur. John Wesley, dem Begründer des Methodismus, durch welchen Still in seinen jungen Jahren nachhaltig beeinflusst wurde, galt sie als Trägerin allen dies- und jenseitigen Lebens. Auch die Spiritisten, Magnetiseure und Mesmeristen, welche die Medizin Amerikas stark beeinflussten und mit denen sich Still ausgiebig beschäftigte, hatten eine vergleichbare Überzeugung. Unter diesem Aspekt sind Stills Ausführungen über die Elektrizität und ihre Bedeutung für das menschliche Lebewesen weit über den rein technischen Aspekt hinaus zu deuten.

      Erst während der Übersetzungsarbeiten zu John Wesleys Natürliche Arzneien wurde mir klar, dass der Einfluss des Begründers des Methodismus auf Stills Osteopathie weniger im religiösen, als vielmehr im medizinischen Bereich anzusiedeln ist – dort aber scheint er bedeutsam. Hier nur ein Beispiel:

      „Einen großen Vorteil haben die meisten in diesem Buch aufgeführten Arzneien gegenüber den üblicherweise angewandten: Der Leser kann sicher sein, dass sie in ihrem Aufbau gut sind, d. h. sie sind rein, ursprünglich, einfach. Aber wer kann sich darauf verlassen, wenn die Medizin, die er verwendet, von einem Apotheker zusammengestellt wird? Vielleicht hat dieser den Wirkstoff, den der Arzt verschrieb, nicht zur Hand und verwendet stattdessen etwas anderes, ‚das ähnlich wirkt‘. Vielleicht hat er den Wirkstoff, aber er ist verdorben und unbrauchbar geworden. Aber Sie würden nicht wollen, dass er die Medizin wegwirft, denn vielleicht kann er sich das nicht leisten. Vielleicht


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