Unschuldsengel. Petra A. Bauer

Unschuldsengel - Petra A. Bauer


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mal jesehn.

      Ausjerechnet, wo mir der Siegfried hinter ’ner Hecke jeküsst hat. Kannste dir wohl denken, dat der det rumerzählt hat.»

      «Friedrich hatte es ja schon immer faustdick hinter den Ohren», pflichtete Charlotte ihr bei.

      «Von Jefühle hat der noch nüscht jehört.»Mina dachte an den Tag zurück, als alle beim Essen saßen und der Jüngste plötzlich zu grinsen anfing.

      «Der feine Schnösel hat unsere Mina jeküsst!»

      Es war bei Familie Kowalewski streng untersagt, während der Mahlzeiten zu sprechen, weil einst eine Großtante sich deswegen am Essen verschluckt hatte und erstickt war. So hatte denn Klein Friedrichs Nachricht bei Tisch auch wie eine doppelte Bombe eingeschlagen. Einfach los reden – und dann noch so eine Botschaft! Mina hatte zwar krampfhaft auf ihren Suppenteller gestarrt, doch der Vater hatte darauf bestanden, dass sie ihn ansah.

      Eigentlich war er ein gütiger Mann. Mina hatte ihm oft angesehen, wie er darunter litt, dass er nicht so streng zu seinen Kindern war, wie man es von einem Familienoberhaupt erwarten konnte. Doch er liebte seine Sprösslinge zu sehr, als dass er die entsprechende Härte an den Tag gelegt hätte.

      An jenem Tage aber bedachte er Mina mit einem Blick, der ihr Angst einjagte. Die Mutter hatte ihr später zu verstehen gegeben, dass es einzig die Sorge um das Wohlergehen seiner Tochter war, die den Vater so hatte schauen lassen.

      «Ist das wahr, Wilhelmina?», hatte er gefragt und war dabei ganz ruhig geblieben.

      Sie nickte und versuchte, eine Erklärung anzubringen, die jedoch mit einer einzigen Handbewegung unterbunden wurde.

      «Ich bin sehr enttäuscht», sagte Vater nur und löffelte seine Suppe weiter.

      Mina hatte eine Strafe erwartet, Gebrüll, vielleicht Schläge. Irgendeine Art der Zurechtweisung. Die Stille war schlimmer. Ihre sieben anwesenden Geschwister – August war ja tot, und Lieselotte hatte nach Senftenberg geheiratet – starrten ebenfalls angestrengt in ihre Suppenteller, wagten es nach einem Weilchen jedoch, untereinander zu wispern.

      «Still!» Vaters Hand donnerte auf den Tisch und ließ die Teller tanzen, so dass die Suppe schwappte.

      «Wir sprechen uns noch!», zischte Mina Friedrich zu, als sie später die Teller abräumte.

      Friedrich hatte die Warnung verstanden und ging Mina in der folgenden Zeit aus dem Weg.

      Mutter hatte Mina hinterher beiseite genommen und ihr eine lange Standpauke gehalten, deren Inhalt sich auf einen Satz reduzieren ließ: Ehrbare Töchter poussieren nicht mit jungen Männern!

      Währenddessen fuhrwerkte sie mit dem Geschirr im Spülstein herum und schrubbte es so fest, dass Mina glaubte, die Teller würden jeden Moment in Stücke brechen.

      «Und dann noch so eener!», rief Mutter plötzlich aus, als hätte sich Mina einen Landstreicher zum Geliebten erkoren. «Wat gloobste denn, was passiert? Der vergnücht sich mit dir, und heiraten tut er ’ne andere. Die dürfen sich doch ja nich unter ihrem Stand vaehelichen. Biste denn völlich blind vor Liebe, Minchen?»

      Da war die Härte der Liebe gewichen, und Mina hatte sich an Mutterns Busen wiedergefunden.

      Mina seufzte. «Mir wär det ooch lieber jewesen, wenn det nich alle jemerkt hätten. Aber meene Jeschwister konnten ja den Mund nich halten und haben erzählt, wat an dem Abend bei uns zu Hause los jewesen is. Und ick fürchte, uff die Art haben es ooch Siegfrieds Eltern erfahren.»

      Charlotte zog die Hausschuhe aus und legte die Füße auf das Sofa. «Hat er denen denn vorher nüscht von seinen Absichten erzählt?»

      Mina stieß ein resigniertes Schnaufen aus. «Er wollte ’nen jeeigneten Zeitpunkt abwarten. Sein Vater wollte ihn mit ’ner Cousine verkuppeln, und er wollte sagen: ‹Vater, ich liebe eine andere, und das kannst du mir im Leben nicht ausreden!›» Mina verstellte dabei ihre Stimme. «Er hat mir sojaa vorjespielt, wie er ihm det sagen wollte. Wenn et nich so traurich wäre, könnte ick heute drüber lachen.»

      «Und am Ende hat er gar nichts gesagt, stimmt’s?»

      «Ick war ja nich dabei. Aber viel kannet nich jewesen sein. Er hat danach drei Tage jebraucht, bis er uffjetaucht is, um mir zu sagen, det wer uns nich mehr sehn dürfen. Nich ma jeküsst zum Abschied hatter mir und is anschließend wegjehoppelt wie ’n anjeschossner Hase.»

      «Vielleicht ging es ihm nahe», gab Charlotte zu bedenken. «Ick denke, du hast die Männer durchschaut? Die sind nich wie wir, die sind sehr einfach jestrickt. Denen jeht janüscht nahe. Vermutlich isser jetzt schon glücklich verlobt mit seiner Cousine.»

      Charlotte versuchte offenbar, ein Gähnen zu unterdrücken, was ihr jedoch misslang. «Sei mir nicht böse, ich muss früh raus. Eine Kollegin hat mich gebeten, für sie einzuspringen.»

      «Mensch, Lotte, ick hab die ganze Zeit nur von mir jesprochen.» Mina hatte schlagartig ein schlechtes Gewissen. «Ick hab nich ma jefragt, mit wat du eijentlich dein Geld verdienst.»

      Charlotte lachte. «Ich bin das Fräulein vom Amt. Ich stöpsle die Telefonverbindungen zusammen. Und wenn es bei einem Gespräch mal ganz heiß hergeht, dann zieh ich den Stöpsel auch wieder.»

      Die beiden lachten, bis ihnen die Tränen kamen.

      «Aber glaub mal nicht, dass das nur schön ist. Ich darf nämlich nicht heiraten.»

      Mina sah die Freundin ungläubig an.

      «Ehrlich! Ich musste vor der Ausbildung unterschreiben, dass ich ledig bin und es auch bleibe. Und wenn mir einer am Telefon einen Antrag macht, muss ich sagen: ‹Besetzt! Werde melden, wenn frei!›»

      Sie sahen sich an und begannen von neuem mit der Lacherei. «Danke, Charlotte! Mir geht et jetzt wieder viel besser. Du bist ’ne jute Freundin. Ick hoffe, ick kann dir det mal zurückjeben.»

      Hermann Kappe hatte sich auf dem harten Holzstuhl niedergelassen, der neben dem Besucherstuhl die einzige Sitzgelegenheit in seinem Bureau darstellte. Er verfluchte wohl zum hundertsten Mal, dass er immer wieder vergaß, Klara um ein Sitzkissen zu bitten. Sie könnte ihm sicher eines aus ihrem Fundus an Stoffresten fertigen. Es musste ja nicht ausgerechnet der Blümchenstoff sein, der beim Nähen von Klein-Margaretes Sonntagskleid übrig geblieben war. Doch Blümchen hin oder her, sein Hinterteil und nicht zuletzt sein Rücken würden es ihr ewig danken. Er war gerade einmal 38 Jahre alt, aber wenn er Stunden auf dem harten Stuhl verbracht hatte, fühlte er sich mitunter wie 70.

      Neiderfüllt dachte Kappe an die Möbel, die im Amtszimmer von Kriminalpolizeirat Ernst Gennat im ersten Stock des Polizeipräsidiums standen: ein grünes Plüschsofa und ein Sessel im selben Farbton. Man munkelte, dass der füllige Gennat gerne einen Teil seines Arbeitstages auf dem Sofa liegend verbrachte, doch niemand nahm ihm das übel. Seine Ermittlungsergebnisse sprachen für sich. Gennat war eine lebende Legende. Er hatte am Fall des Serienmörders Fritz Haarmann mitgewirkt und insgesamt eine sehr hohe Rate an aufgeklärten Mordfällen vorzuweisen. Hartnäckigkeit war eine seiner Tugenden, und so war es auch Gennats Bemühungen zu verdanken gewesen, dass die Zeit des ständig unterbesetzten Mordbereitschaftsdienstes, wie er bisher bestanden hatte, ihr Ende gefunden hatte. Seit dem 1. Januar 1926 gab es eine Zentrale Mordinspektion, deren Leitung Ernst Gennat übertragen worden war. Diesem unterstanden drei Mordkommissionen, die im Wechsel vierwöchigen Bereitschaftsdienst hatten, so dass jeweils eine aktive Mordkommission von zwei Reserve-Mordkommissionen unterstützt wurde. Gennat koordinierte die Kommissionen und hatte die Kontrolle über alle Morduntersuchungen inne. Außerdem suchte er selbst die fähigsten Kriminalisten aus, was Kappe mit einem gewissen Stolz erfüllte, da er schließlich selbst einer der Auserwählten war. Wenn er Gennat nur noch davon überzeugen könnte, dass auch die fähigen Kriminalbeamten für ihre Ermittlungsarbeit ein weiches Ruhekissen brauchten! Doch dazu müsste Kappe ihn überhaupt darauf ansprechen, und das kam ihm dann doch vermessen vor. Er würde lieber endlich Klara um ein Stuhlkissen bitten. Wenn er es nur nicht wieder vergaß! Denn seltsamerweise verschwendete er jeweils nach Verlassen des Dienstgebäudes keinen Gedanken mehr an den fehlenden Sitzkomfort.

      Ich


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