Am Abgrund. Klaus Vater

Am Abgrund - Klaus Vater


Скачать книгу
konnte nur besser werden. Zum einen war ihm zu warm. Westeuropa hatte vom ersten Tag des Jahres an fortwährend Wolken und Regen mit Temperaturen über null Grad geschickt. Kappe brauchte im Winter aber Kälte, die in die Ohren biss, Schnee auf den Wegen, Eisschollen auf der Spree und einen Ostwind auf der Jannowitzbrücke, der nur so durchs gusseiserne Geländer pfiff. Statt eines frischen Aprilwetters hatte es weiterhin Schmuddel gegeben, darauf folgte ein regnerischer, stürmischer und zugleich warmer Mai. Fliederblüten im Straßendreck statt an den Zweigen, Schweiß auf der Haut und Regen auf der Jacke.

      Das Schmuddelwetter hatte zur Folge, dass Kappes Kreislauf Achterbahn fuhr. Rauf und runter. Er fühlte sich schlapp wie ein nasser Waschlappen.

      Zum anderen gab es endlos viel Arbeit. Diese hinderte ihn daran, abends mit Klara am Küchentisch im Lichtkegel des Lampenschirms zu sitzen und ihrer Stimme zu lauschen, die irgendetwas vom Tag erzählte, bis sie abbrach, um sich vollständig auf die Näharbeit zu konzentrieren. Kappe genoss die wenigen Augenblicke der Stille. Dann fühlte er sich wohl, etwa wie ein gutgenährter, aber kurzatmig gewordener, schläfriger Kater.

      Wenige Tage nach Neujahr wurden ihm die Ermittlungen im Fall einer ermordeten Hausangestellten in Steglitz übertragen. Einer der typischen Fälle, die auf dem Schreibtisch eines führenden Kriminalisten bei der Berliner Mordinspektion landen.

      Während er sich noch mit den Ermittlungen zu diesem Fall beschäftigte, landete der nächste auf seinem Schreibtisch. Ein Apotheker hatte offenbar seine Familie mit Blausäure umgebracht, um sich dann selber dieses Gift zu verabreichen. Warum er das getan hatte, war partout nicht zu ergründen. Kein Ehedrama, keine Eifersucht, keine Schulden, kein Hass – nichts, was auf eine verletzte Seele hätte schließen lassen. Der Fall machte ihm dennoch eine Zeitlang zu schaffen.

      In Schöneberg hatte ein Tapezierer seine Frau mit dem Beil erschlagen. Ein versehrter Weltkriegsveteran, rot, verschuldet, vom Rausschmiss bedroht. Seine Frau hatte gedroht, ihn zu verlassen.

      Dieser Fall beschäftigte ihn am längsten. Er wurde zu einem Tiefpunkt seiner Karriere. Denn Kappe, diese gute Seele, hatte versucht, dem armen Kerl aus Schöneberg einen «Jagdschein» zu verpassen – ihn also nach Paragraph 51 des Strafgesetzes für nicht zurechnungsfähig erklären zu lassen.

      Das hätte sogar funktioniert, wenn Kappe nicht zwei schwer- wiegende Fehler unterlaufen wären. Er hatte in der Akte des Tapezierers nicht vermerkt, dass der auf der «Roten Insel» in Schöneberg wohnte, wo Gerüchten zufolge nicht nur die schönsten jungen Frauen Berlins daheim waren, sondern auch die härtesten Roten – diejenigen, die den Nationalsozialisten den stärksten Widerstand entgegensetzten. Dass der Tapezierer dort wohnte, hatte Kappe also verschwiegen, aber einem jungen Polizisten aus Schöneberg mit einem SA-Mitgliedsbuch fiel es auf. Der leitete diese Erkenntnis dem Kriminalpolizeirat Brettschieß zu, nebst einem denunzierenden Hinweis. Flugs fand sich Kappe herbeizitiert. Der Oberkommissar wurde von Brettschieß hart gerügt und an seine nationalen Pflichten erinnert. «Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie national nur bedingt zuverlässig sind. So etwas schaue ich mir nicht lange an!» Einem solchen «Kretin» wie dem Tapezierer wohlwollend zu begegnen, so Brettschieß, passe nicht ins neue Verständnis von Verbrechensbekämpfung. Kappe hatte schwer zu schlucken.

      Wenige Tage danach war Kappe abends mit einigen Kollegen zu einem der seltenen Kegelabende aufgebrochen. An jenem Abend vertilgten Kappe, Galgenberg, Kniehase und die anderen größere Mengen Bier und Schnaps. In dieser lockeren Stimmung fing irgendjemand an, Witze zu reißen über Kappes Versuch, den armen Tapezierer aus Schöneberg vor dem Fallbeil zu retten. Kappe ärgerte sich darüber und trank mehr als üblich.

      «Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einen Roten ausgerechnet in einer Mordakte für Brettschieß verstecken zu wollen?» Ein dicker Kollege aus der Abteilung D – Betrug, Schwindel und Falschmünzerei – sah sich beifallheischend um. «Hast wohl Tapezierer mit Anstreicher verwechselt!»

      Brüllendes Gelächter.

      Kappe strich sich über sein verschwitztes Gesicht. Sein Freund und Kollege Gustav Galgenberg schaute ihn über den Tisch hinweg aufmerksam an, als wolle er sagen: Nimm dich in Acht! Kappe war aber nicht mehr zu bremsen. «Was wollt ihr? Muss doch möglich sein, in Deutschland einen Tapezierer vor der Hölle zu bewahren, wenn Anstreicher bei uns auf den Olymp kommen.» Sprach’s und trank sein Glas aus. Er merkte nicht, dass sich nicht nur bei dem dicken Kollegen die Lider verengten.

      Wenige Tage darauf wurde er zu Brettschieß zitiert. Dort erwartete ihn eine ganze Reihe höherer Kriminaler. In Anwesenheit des Berliner Polizeipräsidenten Magnus von Levetzow wurde Kappe zurückgestuft, vom Oberkommissar zum einfachen Kommissar. Damit verbunden waren ein geringeres Gehalt und später eine entsprechend niedrigere Pension. Das war eine Seltenheit wie Degradieren beim Militär. Der Hochleistungsbürokrat Dr. Brettschieß durfte persönlich den Beschluss erläutern. Es werde ein Signal gesetzt: Wer nicht bereit sei, das Verbrechen mit aller Härte zu bekämpfen, habe in der Berliner Polizei nichts zu suchen. Es müsse Schluss sein mit liberalem Schlendrian und mit dem Ungeist der Altparteien. Man habe Kappe auch hinauswerfen können, aber dann gnädig darauf verzichtet, weil er als Kriminalist unbestreitbare Erfolge vorzuweisen habe. Eine letzte Chance der Bewährung.

      Kappe riskierte während dieser Worte einen ersten Blick auf die Versammlung, vor der er stand. Seine Sorge war, dass man sein leichtes Zittern in den Beinen erkennen könnte. Aber offenbar interessierte dies niemanden. Kriminalrat Gennat, seiner voluminösen Gestalt wegen «der volle Ernst» genannt, überragte in der zweiten Reihe alle anderen. Er hatte ein verkniffenes Grinsen im Gesicht.

      Tags darauf begriff Kappe, warum Gennat so verkniffen aus der Wäsche geschaut hatte. Der hünenhafte Kriminalpolizeirat eröffnete ihm, dass er künftig seine Arbeit mit ihm, Gennat, zu besprechen habe. Das habe der Polizeipräsident angeordnet. Wenn sich ein erfahrener Kriminalist um ihn kümmere, sei die Chance größer, ihn auf den neuen nationalen Weg der Bekämpfung von Schwerstkriminalität zurückzuführen, habe der erläutert. Gennat presste wieder die Lippen zusammen, zog die Mundwinkel hoch und zwinkerte mit den Augen. «Keinen Unfug mehr!», befahl er.

      «Wenn Sie weitere solcher Klöpse abliefern wie bei dem armen Tapezierer von der ‹Roten Insel›, reißen Sie mich mit rein. Haben Sie das verstanden?»

      Das hatte Kappe verstanden. Gennat steckte in einer Zwickmühle. Brachte er ihn im Sinne der Braunen zur Räson, verlor er das Vertrauen der altgedienten Kripobeamten. Brachte er Kappe nicht zu einer braun eingefärbten «Vernunft», galt er in der Augen der Machthabenden rasch als unzuverlässig. Eine schier ausweglose Situation für Gennat. Aber da der sich schon öfter aus solchen Situationen befreit hatte, machte sich Kappe keine große Sorge um ihn. Gennat war ein Phänomen.

      Der Tapezierer bekam einen kurzen Prozess und die Henkersmalzeit. Hermann Kappe machte sich während der folgenden Wochen möglichst klein.

      Dann folgte der Fall einer jungen Frau, die in einem Hotel in der Friedrichstraße erschossen worden war. Der Täter war flüchtig. Offenkundig hatte er sie verführt und dann ausrauben wollen. Die Stadt, eine Vier-Millionen-Einwohner-Bestie, verschlang jedes Jahr auf diese oder ähnliche Weise so manche junge Frau. Doch Kappe hatte mit Glück und Können den Fall rasch gelöst. Daher wich langsam die Scham wegen der Degradierung, und sein Selbstbehauptungswille rührte sich wieder. Während der vergangenen Wochen hatte er öfter über die Zeitläufte nachgedacht. Immer häufiger hatte er mit Verbrechen zu tun, deren Auslöser nicht allein Gier oder Mordlust waren. Hass auf eine andere Herkunft und Neid auf Wohlhabende kamen hinzu. Tritte mit genagelten Schuhen, Knüppel, Mauser. Wieder ein Volksfeind weniger.

      Schließlich hatte ein Oberwachtmeister im Osten der Stadt einen betrunkenen Mann erschossen, der zuvor einen anderen Gast niedergeschlagen hatte. Dieser Fall war der leichteste, denn der Betrunkene hatte gedroht, mit seiner Eisenstange die Herrschaften am Tresen zu Brei zu schlagen. Der zufällig anwesende Polizist, ins Gespräch mit Bekannten vertieft und die Nase im Bier, war aufmerksam geworden, als der Betrunkene eine kurze Eisenstange aus der Tasche zog und sie einem Mann auf den Kopf schlug, um sich dem Nächsten zuzuwenden. Der Oberwachtmeister war aufgestanden und hatte den Betrunkenen angeschrien, er solle einhalten. Als der sich darauf mit der Eisenstange in den Fäusten dem Polizisten zuwandte,


Скачать книгу