Federspuren. Birgit Rentz
Angst, als eines Tages einem dieser hirnlosen Fischlebewesen mit den blöde glotzenden Augen zu ähneln.
Ich schwimme weiter in die Kapitänskajüte, die erstaunlich klein ist. Mein Kapitän ist dicklich und klein, ich habe ihm Wurstfinger verpasst und eine zu enge Gala-Uniform. Er ist ein Wichtigtuer und Feigling und muss die Rolle des Bösewichts übernehmen. Ihm ist Geld wichtiger als alles andere, und Schmuggel wird gut bezahlt. Heimlich hat er Chemikalien an Bord genommen, die explodiert sind. Am Untergang des Kreuzfahrtschiffes ist natürlich er schuld.
Während ich mich in eine Ecke drücke, um nicht von der Strömung fortgetrieben zu werden, spinne ich seine Geschichte aus. Je länger ich hier unten lebe, umso schwieriger wird es, Details zu finden. Manchmal fällt mir nicht einmal mehr ein, wie rosige Haut aussieht oder wie sich trockene Haare anfühlen.
Die einzige Brücke zu der Welt, in der ich einmal gelebt habe, ist meine Erinnerung. Wenn ich sie verliere, höre ich auf zu existieren.
Früher habe ich meine Gedanken schriftlich festgehalten, aber hier unten kann ich nicht schreiben, das schmerzt mich noch immer. Mit allem anderen habe ich mich abgefunden, mit der Einsamkeit und der Aussicht, nicht mehr auftauchen zu können. Nicht einmal die langsame Erkenntnis, nie wieder sprechen und singen zu können, macht mich so traurig wie die Feststellung, nicht mehr schreiben zu können.
Als ich noch oben lebte, dachte ich, das Reden sei wichtig, damit teile ich den anderen mit, was ich fühle, was ich denke. Doch hier unten wurde mir bewusst, dass das Schreiben viel wichtiger war. Es war mein Herz, das sprach, das mich aufschreiben ließ, was ich nicht sagen konnte. Ich war im Schreiben zu Hause, es war ein weites Land, und ich war dennoch darin geborgen.
Nur hier in dem Schiffswrack, an diesem einzigen menschlichen Ort im endlosen dunklen Ozean, kann ich meine Erinnerungen lebendig halten. Ich versuche so zu tun, als würde meine alte Welt noch existieren, als gäbe es meine Geschichte noch und als würde ich sie aufschreiben. Satz für Satz und Wort für Wort.
„Eines Tages bin ich im Meer aufgewacht“, lautet der erste Satz. Während ich ihn in Gedanken formuliere, sehe ich mich in meinem Zimmer unter dem Dach am Schreibtisch sitzen. Ich fahre fort mit meiner Geschichte: „Um mich herum ist Wasser, meine Arme und Beine stoßen ins Leere. Erst glaube ich, es ist ein Traum, ich schlage um mich, versuche zu schreien, in der Hoffnung, ich werde aufwachen. Schon während ich den Mund zum Schrei öffne, ist mir bewusst, dass es unmöglich ist. Das Schreien und das Sprechen sind mir abhandengekommen.
Dann bekomme ich Panik. Ich habe Angst, ich werde ertrinken. Ich muss atmen! Luft holen! Obwohl ich den Mund nicht öffne und nach Luft ringe, atmet es in mir. Dann versuche ich, nach oben zu schwimmen, bis ich erkenne, es gibt kein Oben und Unten. Alles um mich herum ist blau, ist Wasser. Ich bin eingeschlossen in diesem unendlichen Meer.
Am Anfang habe ich oft darüber nachgedacht, was mit mir passiert ist. Ich bin immer noch ein menschliches Wesen, nur dass ich mich plötzlich im Meer bewegen kann. Ist es ein Traum? Ein nicht enden wollender quälender Traum? Liege ich in Wirklichkeit in meinem Bett? Oder bin ich wahnsinnig geworden und bilde mir alles nur ein?
Vielleicht habe ich einen Unfall gehabt und kann mich an nichts mehr erinnern? Bin ins Koma abgetaucht und komme nicht wieder an die Oberfläche? Vielleicht gibt es Menschen da draußen, die um mich kämpfen, die mich rufen und zurückholen wollen, doch ich sehe und höre sie nicht. Ich lebe in meiner eigenen Welt.
Schwerelos gleite ich seitdem durch das Wasser. Am Anfang begleitete mich ständig die Angst, vor allem vor den Raubfischen, bis ich merkte, dass sie sich nicht für mich interessieren. Als wäre ich auch für sie nicht existent.
Es gibt hier unten keinen Tag, keine Nacht und keine Zeit. Wie lange ich schon hier bin, weiß ich nicht. Meistens lasse ich mich treiben, und es passiert mir immer öfter, dass ich nichts mehr denke, dass ich mich dem Sog des Wassers überlasse und einfach nur da bin. Ein menschliches Wesen, eingeschlossen im Wasser, frei von allen Zwängen und Pflichten, nur sich und seiner Einsamkeit überlassen.
Die Bilder in meinem Kopf verblassen und die Worte verstummen. Deswegen bin ich heute wieder in dem Wrack, meinem Zufluchtsort, an dem ich in die Vergangenheit reise.
Auch wenn ich nie wieder auftauchen sollte, will ich weiterleben. Ich will mich daran erinnern, wer ich gewesen bin.“
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