Wellenwasser. Reinhard Kessler
„Deswegen kommen wir ja auch oft her.”
„Weisst du noch, wie wir früher mal in einer Kurzeitung irgendwo gelesen haben, der und der ist schon zum 25. mal da und erhält als Anerkennung eine Ehrennadel oder eine Urkunde?”
„Ja. Damals haben wir gesagt, hoffentlich werden wir nicht mal so! Und jetzt? Jetzt sind wir doch bestimmt schon zum 7-ten mal hier und finden das gut. Ich fürchte, wir werden alt.”
„Natürlich werden wir alt, und zwar genau deswegen. Warum sollen wir denn wie vergiftete Affen in der Welt herumrasen, wenn es hier so schön ist. Andere haben ein Ferienhaus und sind jeden Sommer und an vielen Wochenenden da, also immer am selben Ort. Das ist ja noch weniger Abwechslung, aber die Leute fühlen sich wohl, weil es das ist, was sie wollen.”
„Ja, die Menschen sind komisch. Da rasen sie tatsächlich aus ihrem hektischen Alltag heraus wie verrückt in die Ferien, am liebsten zu einem einsamen Inselvolk, bewundern, wie die in Ruhe leben, und dann rasen sie wieder zurück in ihren hektischen Alltag.”
„Was meinst du, wie oft fahren wir noch auf unsere Insel?”
„Bis sie mal rauskriegen, womit man noch alles Geld verdienen kann und grosse Bettenburgen bauen und dann immer ein Riesenbetrieb ist.”
„Ja, das wäre es dann mit der Ruhe. Da wäre sogar nachts noch Party am Strand. Irgendwann taucht dann noch die übliche Schickeria auf und alles ist kaputt: die Ruhe, die Preise, das Wohlfühlen. Hier wären nur noch die Angeber und ihre Gefolgschaft.”
„… und dann rasen sie mit Jet-Skis über das Wasser und irgendwelche Klatschreporter würden dauernd irgendwelchen Promis hinterhersteigen. Sie würden hier grosse Bootsstege bauen für die Angeber-Yachten, Zufahrten und teure Schickimicki-Restaurants – alles würde anders werden.”
„Und sie müssten schöne Parkplätze bauen. Für die tiefer gelegten Sportwagen sind die zur Zeit gar nichts und die teure Nobelkarosse wird womöglich schmutzig. Stell dir nur mal vor, die gnädige Frau müsste aussteigen und würde genau in eine Pfütze treten, das würde sicher zu irrsinnigen Schadensersatzansprüchen führen.”
Langsam wurde es frisch und sie beschlossen, zurück in die Ferienwohnung zu gehen, sich umzuziehen und anschliessend ab zum Essen. Morgen wären sie bestimmt den ganzen Tag am Strand. Schönes Wetter war angekündigt, und genau deswegen waren sie ja hier, zum Herumlungern am Strand, ohne Stress, ohne Handy, ohne Termine, ohne früh aufstehen und ohne Hektik auf dem Weg zur Arbeit, ohne Sachzwänge …
Es kam anders.
Denn seine Frau fragte beim Essen unvermittelt: „Hey Struppi, wie wäre es mit Frisör morgen? Du könntest das Winterfell jetzt ablegen. Es geht in den Sommer.” „Ja, und du könntest dich wieder mal enteseln lassen. Das Graue kommt wieder durch.”
„Was?”
„Du könntest dich wieder ent-eseln lassen.”
Logische Folge: Ellenbogen in die Rippen.
Er lachte nur.
Das kennen wir nun schon und werden es in diesem Buch noch öfter erleben. Diese spezielle Art der nonverbalen Kommunikation ist hocheffizient und hat mit häuslicher Gewalt deswegen nix zu tun, weil sie draussen im Freien genauso oft vorkommt. Es handelt sich mittlerweile auch eher um ein Gewohnheitsrecht.
Ellenbogen in die Rippen ist auch als Form der Anerkennung interpretierbar, etwa nach dem Motto: dieser Mist ist wieder mal ausserordentlich, wer ausser dir kann sich nur so einen Mist ausdenken? Eine modifizierte Art des Schulterklopfens. Auf jeden Fall ist Ellenbogen in die Rippen mental bequem und drückt doch viel aus. Es ist eher eine verbindende Geste als eine trennende Aggression. Das müssen wir uns merken, denn es passiert in diesem Buch noch öfters.
Morgen würden sie also erstmal getrennte Wege gehen. Zusammen nach Wismar fahren, dann getrennt jeder zu seinem Frisör, bei ihm nur schneiden, bei ihr auch färben, dann Einkäufe und so weiter. Sie hatten ja Zeit. Das Meer läuft nicht weg, also hier im Osten jedenfalls nicht.
Er wollte in eine Buchhandlung, er brauchte noch einen Ferienkrimi und ein paar neue Karten von der Umgebung. Ein Stadtführer wäre auch nicht schlecht. Man lernt doch immer noch was dazu.
Sie bräuchte etwa 2’000 Ansichtskarten – weiss der Teufel, wem sie wieder alles schreiben will – und Briefmarken. Offensichtlich muss die ganze Welt über ihre neuen Koordinaten informiert werden.
„Und die Bluse aus dem Outdoorladen bei uns, die gibt es doch hier bestimmt auch.”
„Da kannst du auch im Karstadt schauen.”
„Was? Die haben hier auch ein Karstadt?”
„Nein, Frau. Die anderen haben auch ein Karstadt. Von hier kommt der. Das erste Geschäft wurde 1881 hier in Wismar gegründet.”
„Man lernt nie aus! Woher weisst du das?”
„Das steht in dem Reiseführer, den ich mir morgen kaufen werde.”
„Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?”
„Nee, das habe ich schon bei unserem letzten Aufenthalt hier gehört.”
Der nächste Tag war somit grob geplant.
Dunkle Gestalten und Gerome
Jelato und seine Frau fuhren also wie besprochen am nächsten Tag morgens zusammen nach Wismar, trennten sich dort und verabredeten sich auf eine bestimmte Zeit später an der Wasserkunst. Wir kommen noch darauf zu sprechen, was das genau ist. Auf jeden Fall ist das ein charakteristischer Punkt, ideal für Verabredungen. Heute heissen solche idealen Treffpunkte auf neudeutsch Meeting-Points. Na dann doch lieber die Wasserkunst. Das klingt doch nach was, irgendwie spektakulär, irgendwie avantgardistisch, kultur-elitär – macht auf jeden Fall einfach mehr her.
Jelato traf dort in der Nähe zufällig seinen alten Freund Gerome wieder. Gerome, wer ist das überhaupt? Wie kam es zu diesem Treffen? Dazu müssen wir etwas zurück in der Zeit ...
… früher:
Gerome und Jelato waren vor gefühlten Millionen Jahren zusammen auf der Polizeischule gewesen und hatten sich dann irgendwie später aus den Augen verloren. Es war viel Zeit inzwischen vergangen.
Ein einziges mal hatten sie sich in den vergangenen Jahren zufällig in der Schweiz getroffen. Jelato besuchte damals zur Weiterbildung einen Kongress an der Universität in Lausanne mit dem Arbeitstitel „European Meeting of Forensic Science”. Sein Hauptinteresse galt zwei oder auch drei Gebieten, wo er sich mit den neuesten Entwicklungen aus der Welt der Spurensicherung vertraut machen wollte.
Karli, der Forensiker aus Basel, der, den sie immer Mr. Hmm nannten (warum, erfahren wir später auch noch), hatte ihn auf den Kongress aufmerksam gemacht. Jelato hatte sich das Programm schicken lassen und dann drei Schwerpunkte ausgesucht: Forensic Paint Analysis – Forensic Drug Analysis – Firearms And Gunshot Residues.
Da könnte er auch als Nicht-Forensiker sicher jede Menge nützlicher Details lernen. Und natürlich Kollegen aus der ganzen Welt kennenlernen. Vor allem mit den Jungs vom FBI hätte er sich doch ganz gerne mal unterhalten, was da so läuft auf der anderen Seite vom grossen Teich.
Nach dem Mittagessen auf dem Weg zurück zum Vortragssaal fiel ihm ein dunkelhäutiger Kongressbesucher auf. Er kam im Pulk der anderen Zuhörer zur Tür rein und Jelato erkannte ihn sofort. Das war doch Gerome, sein Kumpel aus alten Tagen! Die Überraschung! Da gab es natürlich erstmal eine anständige Begrüssung und die nächste Veranstaltung wurde selbstverständlich geschwänzt, um die genannten alten Zeiten auch entsprechend aufzuwärmen.
Gerome war englischsprachig, aber er sprach auch exzellent deutsch. Jelato beherrschte im Gegenzug auch ein bisschen englisch, so etwa auf Schulniveau, aber ausreichend. Die Sprache war also noch nie ein Problem gewesen. Nebenbei, die Hautfarbe auch nicht. Ich sage das hier nur, damit das klar ist,