Auf dem Weg in ein neues Leben. Thomas Löffler
Unsere Brieffreundschaft bedeutet mir sehr viel.
Meike hielt im Lesen inne. Warum mussten die Briefe, die sie sich schrieben, immer so neutral klingen? Sogar einen anderen Namen mussten sie verwenden. Sie hoffte, dass dies alles bald der Vergangenheit angehören würde.
Vor einigen Tagen war ich bei einem älteren Herrn, um ein Klavier zu stimmen. Zuerst wirkte er sehr verschlossen, ja er war mir gegenüber sogar ablehnend. Der Mann ist sehr einsam. Nur für seine verstorbene Frau lässt er das Instrument, das wirklich nur noch für den Schrottplatz taugt, stimmen. Ich denke oft über ihn nach.
Der arme Uwe, dachte Meike. Er ist selbst hypersensibel und soll anderen ein Seelsorger sein. Vielleicht gerade deshalb.
Meine Gedanken sind oft bei meiner Freundin.
Ich hoffe doch stark, dass er mich meint! Die junge Frau grinste.
Unsere Bandprobe ist total schiefgelaufen. Überdies haben der Bassgitarrist, eine Sängerin und der Schlagzeuger angekündigt, die Band zu verlassen. Ich muss jetzt los. Später kommen zwei Bekannte zu Besuch. Wir wollen den nächsten Urlaub besprechen.
Es grüßt dich Peter
Schweren Herzens steckte Meike Uwes Brief in den Umschlag zurück. Ein drittes Mal stand ein Wechsel der Deckadresse bevor. Das wäre die Gelegenheit, Peter in Uwe und Karin in Meike umzutaufen.
Das Klingeln des Telefons weckte sie aus ihren Träumen. Ohne sich zu beeilen, ging Meike zu einem kleinen Schränkchen, auf dem ein schwarzes Telefon stand. Kurz angebunden meldete sie sich: „Zieling.“
„Was ist denn mit dir los?“ An der Frage erkannte Meike ihre Kollegin.
„Petra, du bist es. Ich dachte, es wäre Bernd. Der nervt zurzeit mal wieder. Er kann einfach nicht begreifen, dass ich ihn nur als Kumpel will.“
„Ist es dir recht, wenn ich dich zur Arbeit abhole? Es gießt wie aus Kannen.“
„Das wäre sehr schön.“
„Ich komme in einer halben Stunde vorbei.“
Kaum hatte Meike aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. „Was ist noch?“
„Na, na, na, Meike, gehst du immer so mit deinen Anrufern um?“
Die Frau lachte: „Hans du bist es. Ich dachte, meine Kollegin wollte noch etwas. Sie rief mich gerade an und holt mich in einer halben Stunde zur Arbeit ab.“
„Ich habe Nachricht von drüben bekommen.“
Meike lief ein Schauer über den Rücken. „Ist was passiert? Was ist mit Uwe?“
„Beruhige dich. Ihm ist nichts passiert. Es geht um die Freizeit mit den Ostdeutschen.“
Die junge Frau atmete tief durch. Der Kontakt zwischen ihr und ihrem Freund konnte den staatlichen Stellen auf Dauer nicht verborgen bleiben. Ein wenig ruhiger fragte sie: „Konntet ihr euch auf einen Zeitraum einigen? Ich muss rechtzeitig Urlaub einreichen.“
„Dann plane die erste Woche im Juli ein.“
„Weißt du, ob Uwe kommt?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Es ist durchaus möglich, dass ihm davon abgeraten wird. Die Überwachung ist so stark, dass es sich auf das Treffen auswirken könnte, wenn Uwe daran teilnimmt. Niemand darf wissen, dass ihr in Kontakt steht.“
„Hans, ich sehne mich so nach ihm. Seit meiner Flucht haben wir uns nur Briefe geschrieben.“
„Das glaube ich dir. Du darfst aber nicht vergessen, dass es anderen ähnlich geht. Heute Abend wollen sich ein paar Jugendliche bei mir treffen. Dabei geht es um die Freizeit in Ostberlin. Wenn du möchtest, kannst du gern dabei sein.“
„Ich komme auf alle Fälle vorbei.“
„Es geht um 20:00 Uhr los. Halt den Kopf oben.“
Lange noch hielt Meike den Hörer in der Hand. Vier Monate waren es noch bis Juli. Wie würde sie Uwe gegenübertreten, falls sie sich trafen? War er noch der, den sie so liebte? Meike erschrak. War ihr Jugendfreund aus dem Internat in Oberlensbach überhaupt noch allein? Wartete er auf sie, so wie sie auf ihn wartete? Sie gab die Hoffnung nicht auf. Damit traf sie bei ihren Altersgenossen, vor allem bei Männern, die sich für sie interessierten, auf Unverständnis. Wie konnte sie auf einen Ostdeutschen, vielleicht sogar einen Kommunisten, warten? Der jungen Frau taten diese Vorurteile weh. Dennoch hielt sie an der Hoffnung fest, Uwe wiederzusehen, vielleicht sogar irgendwann ihr Leben mit ihm zu teilen. Zurück in die DDR konnte sie nicht. Im Westen angekommen hatte Meike ihre Mitarbeit in der Friedensbewegung fortgesetzt. Daher galt für sie bis auf Weiteres das Einreiseverbot. Oft kamen ihr Zweifel an der Richtigkeit des von ihr eingeschlagenen Weges. Meike war gegen die Aufrüstung in Ost und West. Deshalb hatte sie sich zum Ende der Berufsausbildung in Oberlensbach der ostdeutschen Friedensbewegung angeschlossen. Aufgrund eines Verrats war die Gruppe aufgeflogen und Meike war durch ihre Flucht in den Westen der Verhaftung entgangen. Sie hatte dabei die Trennung von Uwe in Kauf genommen. Seit dieser Zeit fühlte sich die junge Frau ihrem Freund gegenüber schuldig. Seinetwegen wies sie Männer ab und zog sich immer mehr zurück. Die neue Arbeitsstelle gab ihr die nötige Zuversicht. Nach anfänglichen Vorurteilen der Kollegen gegen sie als Ostdeutsche fühlte sich Meike inzwischen vom Team angenommen. Endlich legte sie den Hörer auf und fing an, sich für das Büro fertigzumachen.
„Wir müssen alles genau planen“, sagte Hans Timmroth am gleichen Abend zu seinen jugendlichen Gästen. Diese saßen in seinem kleinen Wohnzimmer auf Kissen und Matratzen. „In den VW-Bus der Kirchgemeinde passen mit Fahrer neun Mann. Somit könnten wir die ganze Gruppe unterbringen.“
Eine junge Frau von zwanzig Jahren meldete sich zu Wort. „Darf Meike mitfahren?“
„Ich gehe davon aus. Ihr Einreiseverbot bezieht sich nicht auf Tagesfahrten nach Ostberlin. Ich treffe mich bald mit dem Leiter der ostdeutschen Gruppe, um ein gemeinsames Programm aufzustellen.“
Günther, der stets im Hintergrund blieb, fragte vorsichtig: „Bleiben wir die ganze Woche drüben?“
Verneinend schüttelte Hans den Kopf. „Wir müssen jeden Abend zurück und fahren morgens wieder nach Ostberlin.“
Meike beschlich eine leise Trauer. Sie beherrschte sich und blieb still.
„Wenn ihr Vorschläge zum Programm habt, könnt ihr sie selbstverständlich anbringen. Ich bin für alles offen.“ Hans beendete den offiziellen Teil des Treffens.
Langsam löste sich die Gruppe auf. Meike nahm den weißen Langstock vom Haken und schickte sich an, die Wohnung zu verlassen.
An der Tür wurde sie von Hans zurückgehalten. „Hast du noch etwas Zeit?“
Meike zögerte: „Ich muss morgen zeitig aufstehen.“
Ohne darauf einzugehen, sagte ihr Gegenüber: „Ich fahre am Wochenende nach Ostberlin.“
Meike versuchte sich zu beherrschen. Zunächst hatte diese Ankündigung für sie keine Bedeutung. Hans fuhr oft in den Osten.
Nach langem Schweigen räusperte sich ihr Gesprächspartner. „Ich könnte dich mitnehmen.“
Das Mädchen hüllte sich weiter in Schweigen. Sollten die langen Jahre des Wartens bald ein Ende haben?
Hans ahnte, was in Meike vorging. Noch war die Katze nicht aus dem Sack. Vorsichtig fuhr er fort: „Ich habe in der Katharinengemeinde zu tun.“
Langsam richtete sich Meike auf. „Ist das nicht unsere Partnergemeinde?“
„Genau. Ende der Woche hat dort ein gewisser Klavierstimmer namens Jäger einen Termin.“
Endlich hielt es Meike nicht mehr auf ihrem Platz. Aufgeregt fragte sie: „Meinst du Uwe Jäger?“
Der Angesprochene schwieg.
„Nun sag doch was! Ist es Uwe?“