Spannende Kurzgeschichten für unterwegs. Renate Sültz
DREI NETTE ÄLTERE HERREN
Es ist Freitag. Wie an jedem Freitag treffen sich Karl, Ernst und Willi zu ihrer Männerrunde im Restaurant. Es wird Kaffee getrunken und geklönt über Gott und die Welt.
„Mein Sohn hat sich ein Trekkingrad gekauft, das ist ja ganz was anderes als ein Mountainbike!“, sagt Willi.
„Willi, ich fahre noch mit der alten Drei-Gang-Schaltung. Erzähl, wie läuft das Rad denn so?“, fragt Ernst.
Und so gehen die Gespräche weiter, vom Fahrrad über den gestern gesehenen Film bis zu Fußball. Karl, Ernst und Willi sind auch ausgesprochenen Fans dieser Sportart. Nun ja, eigentlich tut dies alles nichts zur Sache. Es wäre auch irgendwie langweilig.
Die drei Männer kommen immer mit dem Bus zum Restaurant.
„Lasst uns Omi 32 nehmen, dann geht es mit unseren Gesprächen sofort los“, schlug Karl vor vielen Jahren vor. Er meinte damit den gelben Omnibus der Linie 32.
Zuerst stieg er selbst ein. An der Luisenstraße stieg Ernst dazu. Zuletzt Willi an der Ecke Bismarckstraße/Ernst Becker Weg.
Gegen 12:30 Uhr beenden die Herren ihre Runde. Dreimal das kleine Frühstück, ein Mettbrötchen extra für jeden und viel Kaffee sind vertilgt. Würden sie das große Frühstück nehmen, so könnten sie sogar noch etwas einsparen. Aber auch das tut nichts zur Sache.
Der Omnibus der Linie 32 in Gelb mit der Werbeaufschrift der Konditorei Meiering und Mehlmann kommt pünktlich wie immer. Ebenfalls wie immer sind Karl, Ernst und Willi die einzigen Fahrgäste. Busfahrer Kurt wird schon lange per Du begrüßt.
Außerhalb des Ortes geht es bergauf. Rechts geht es einen Hang hinunter, bis zu einer grünen Wiese. Am Ende säumt eine Baumreihe die schöne Allee zum Weckenberg. Karl, Ernst und Willi plaudern gerade über die Einbruchserie im Dorf.
„Gert Hoffmann muss einfach mehr auf Streife gehen“, sagt Willi. „Früher gab es das nicht!“
„Ja, früher“, sagt Ernst.
In diesem Augenblick gibt es einen gewaltigen Knall. Ein Reifen platzt. Der Bus kommt von der Straße ab, rast direkt auf die Wiese und überschlägt sich. Die Männer wirbeln umher, sterben noch, bevor der Bus vor den Bäumen zum Liegen kommt. Der Busfahrer überlebt.
„Ja, früher war alles besser“, sagt Ernst – über den Dingen stehend.
Karl und Willi stimmten zu: „Genau so war es.“
FÜNF STUNDEN ANGST
Der Flughafen im Osten Amerikas war immer gut besucht. Er lag auf dem Weg in ein Erholungsgebiet.
Es war Samstag, 11:30 Uhr. Eine Schlechtwetterfront war zwar angesagt, aber sie würde wohl eher vorbeiziehen. Die Kinder spielten freudig im großzügig eingerichteten Flughafen. Das Restaurant öffnete gerade zum Mittagstisch.
„Wie immer“, sagte Joe zu seiner Frau, „die Kinder wollen Burger!“
Plötzlich verschwand die Sonne, es wurde dunkel. Eine riesige schwarze Wand kam auf sie zu. Furchteinflößend.
Von den sechzehn Grad an diesem Spätherbsttag sank das Thermometer auf minus einen Grad. Schneegestöber, Hagel, ein weiterer Temperaturabfall auf minus zehn Grad.
Die grellen Blitze waren beängstigend. Die letzte Nachricht eines großen Passagierflugzeuges im Tower war: „Notlandung in fünfzehn Minuten!“ Danach fiel der Strom aus.
Die Notbeleuchtung und die Notausgänge funktionierten.
Schreie, wildes Herumlaufen.
„Mami, Mami!“, rief Angela, Joes Tochter.
Das Flugzeugpersonal berechnete von Hand den Kurs der Maschine.
„Mein Gott“, sagte Dean Ricks. „Die Maschine wird den Flughafen treffen! Auf der vereisten Rollbahn kann sie nicht bremsen!“
Dean rannte los, um die Menschen im Flughafen zu warnen und zu evakuieren. Noch elf Minuten. Es waren jetzt minus siebzehn Grad. In der Flughafenhalle organisierte Dean die Evakuierung.
„Und dann?“, fragten die Leute. „Was machen wir im Freien bei der Kälte?“
Joe war Stuntman. Er flog mit seinem Trans Am mehr als achtzig Meter über geparkte Autos. Jetzt überlegte er und hatte eine Idee: Er rief die Autobesitzer auf, eine Mauer aus Autos zwischen dem Flughafen und der ankommenden Maschine zu bauen. „Denkt an die Kinder!“, rief er noch.
Einige Menschen folgten dem Flugpersonal ins Freie.
Jetzt waren es minus neunzehn Grad.
„Unmöglich mit T-Shirt!“, rief Kathy. „Zurück in das Gebäude!“
Joe startete mit fünfzig Männern und ihren Fahrzeugen zur Landebahn. Dean hatte ihnen vorher die Landebahn angegeben. Noch acht Minuten bei minus zweiundzwanzig Grad. Alle Fahrzeuge wurden quer zur Landebahn aufgestellt. Einige fuhren gleich von der vereisten Landebahn in die Wiese, andere starteten erst gar nicht, zwei flüchteten mit ihren Familien Richtung Westen.
Die Männer verließen die Fahrzeuge und schlitterten zum Flughafen. Die Fahrzeuge verschwanden im Dickicht des Unwetters. Donnernde Geräusche.
Nun müsste die Maschine kommen. Sie war überfällig. Plötzlich schoben sich die Fahrzeuge ineinander, ein Krachen, Turbinenheulen des Flugzeugs, Donnern, Explosionen.
Jetzt sah man die riesige Nase des Passagierflugzeuges. Das Fahrwerk zerbrach. Noch achtzehn Meter bis zum Flughafengebäude, fünfzehn Meter, acht Meter, das erste Auto wurde quer durch die Flughafenscheibe gedrückt. Die Menschen schrien und liefen wild durcheinander.
Dann wurde es ruhiger, aber es gab keine weitere Explosion. Alle überlebten diesen Horrorunfall. Verletzte gab es. Doch die Wunden würden heilen.
Es war immer noch Samstag, jetzt siebzehn Uhr, und die Sonne schien wieder.
ALTERLOS WAREN SIE
Beide waren um die fünfzig Jahre. Aber niemand sah ihnen an, wie alt sie tatsächlich waren. Unglaublich, aber wahr, sie sahen aus wie zwei zwanzigjährige Teenager. So gaben sie sich auch. Kleideten sich flippig und jugendlich. Redeten überlegen und oft auch albern.
Wo kamen sie her? Wer waren sie?
Sie wussten es selbst nicht genau. Zwar kannten sie ihren Geburtsort, hatten beide ein aufregendes und zum Teil auch schlimmes Leben hinter sich. Trotzdem hatten sie das Gefühl, aus einer anderen Dimension zu kommen. Unglaublich waren ihre Gedanken und das Wissen über die Welt und alle Zusammenhänge. Unglaublich auch die Gespräche, die immer mehr in eine ferne Richtung gingen. In eine Richtung, die nur Julia und Lukas kannten.
Ja, sie waren etwas Besonderes. Sie waren anders. Nicht nur im Aussehen und Denken, sondern auch in den Tiefen ihrer Herzen. Sie hatten Sehnsucht. Sie sehnten sich nach etwas, das sie noch nicht definieren konnten.
Doch sie glaubten fest daran, nicht von der Erde zu sein. So unglaublich es auch klang.
Die beiden schafften sich ein kleines Paradies. Ein Zimmer, das ihnen heilig war. Mit schönen Dingen schmückten sie es aus. Am Abend knisterte ein Kamin, wenn sie sich dorthin zurückzogen. Leise, romantische Musik ertönte aus der Musikanlage und lud zum Träumen ein. Das abendliche Glas Wein gehörte auch dazu.