Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit. Helen Braasch

Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit - Helen Braasch


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beigetreten waren?

      Wie muss der sozialistische Mensch sein? Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Genosse König fragt den Kollegen Dr. Gallus, der ehrenhalber am Parteilehrjahr teilnehmen darf, ob man seine Freizeit beliebig verbringen dürfe. Gallus windet sich ein wenig und antwortet wie ein braver Schüler: „Trunksucht und zu lautes Gewese belästigen die Nachbarn.“ Dagegen lässt sich nichts sagen. Aber Genosse Dr. Kupferschmied trifft den Kern: „Die Freizeit darf man nicht nur vergammeln. Keiner darf nur Briefmarken sortieren oder nur im Garten arbeiten. In der Freizeit müssen wir gesellschaftliche Arbeit leisten, etwas Sinnvolles zustande bringen.“ Henrike kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du Spaßvogel“, denkt sie, „du hast deine Jagd und vereinst darin Hobby, nutzbringende Beschäftigung und gesellschaftliche Arbeit.“ Kannst es immer drehen, wie du es brauchst.

      König ebbt die ohnehin schon wellenarme Diskussion noch weiter ab und erzählt von seinem ersten Opernbesuch, bei dem er sich die Ohren zuhielt. Na ja, man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. Da rutscht Henrike doch noch eine Bemerkung heraus: „Fressen, Saufen, Rauchen – das schadet dem Staat.“ Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Sie denkt dabei an die Gelage, die einige der Genossen öfter in Saus und Braus abhalten, einer von ihnen säuft auch allein. Genosse Kupferschmied ist empört: „Mit den Steuern auf Zigaretten bestreitet der Staat seine Verteidigungskosten.“ Manta fragt sich und die anderen, warum Schnaps mit den schönsten Flaschen und den herrlichsten Etiketten angepriesen wird, während an Limonade und Most das Etikett gerade noch hält. Endlich mal etwas Kritisches! Jetzt ist die Diskussion so richtig schön im Gange. Genosse Gerich verlangt, dass niemand sein Auto an den Baum fährt (auch das persönliche Eigentum muss geschont werden). Das wundert niemanden, denn die Bestellzeit für einen Trabi währt oft elf Jahre. Manche Omas bestellen schon vorausschauend für ihre minderjährigen Enkel. Manta steigert sich zu der Forderung, dass handfeste Kollegen und Genossen nachts randalierenden Jugendlichen auflauern sollen, denn an der Bushaltestelle verschwand letzten Abend nach Sonnenuntergang die Bank.

      Jetzt aber muckt einer auf. Genosse Brotmann sieht seine Individualität bereits im Erbgut bedroht. Er protestiert gegen die Bekämpfung des Individualismus. Nur schwer ist er davon zu überzeugen, dass der Individualismus den Egoismus, die Raffgier, das Spießertum im Schlepptau hat. Wer sich selbst zu wichtig nimmt, lebt gefährlich. Genosse Manta knüpft mit einer handfesten Angelegenheit daran an. Henrike hat vor einiger Zeit ein Buch publiziert und einige Exemplare an Kollegen verteilt. Genosse Manta kam dahinter und verlangt nun, einen Anteil des Honorars an die Partei abzuführen. Na toll, stille Teilhaberschaft, es bleibt ihr nichts anderes übrig als dem zuzustimmen. Das ist Parteidisziplin! Trotzdem wird sie getadelt, nicht von sich aus so gehandelt zu haben. Es geht ihr gegen den Strich. Was hatte die Partei mit ihrem Buch zu tun? Sie kann ihren Standpunkt nicht klar machen. Hatte sie sonst nicht alle Anforderungen erfüllt, Berichte geschrieben, an Demonstrationen und freiwilligen Arbeitseinsätzen teilgenommen? Nun das auch noch! Sie ist wieder einmal nicht ganz in der Spur. Das war’s dann für heute.

      Genosse König hat sich ein salbungsvolles Schlusswort zurechtgelegt. Er liest es vor und schließt das Parteilehrjahr: „Die Zukunft der Menschheit wird sozialistisch sein.“ Die Sonne ist schon dabei, am Horizont zu versinken. Henrike läuft langsam zum See. Die Fähre ist pünktlich. Müde schlägt sie den Einkaufsbeutel über die Schulter.

      Und wie muss der sozialistische Mensch nun sein?

      Manchmal ist er auch müde.

      Hela steht am Fenster ihres Dienstzimmers und blickt auf die parkähnliche Anlage um das Institut, in dem sie nun schon seit 13 Jahren arbeitet. Der Herbst verdrängt den Sommer mit kräftigen Winden, die bereits einige bunte Blätter fallen lassen. Herbst ist Erntezeit, Farbenzeit, für manchen die schönste Zeit. Hela aber sieht ihn wehmütig als das Ende des Sommers und verwünscht die kürzeren Tage, den zeitigen Sonnenuntergang und die kühlen Abende und Nächte. Der Altweibersommer lässt dieses Jahr auf sich warten. Schauernd zieht sie ihre Strickjacke etwas fester zusammen. Ihr blondes Haar ist hinten hochgesteckt und verleiht ihrem ernsten Gesicht mit der markanten Nase eine gewisse Würde. Ihre Gedanken arbeiten auf Hochtouren, zudem ist ihr ein bisschen übel. Besser, sie setzt sich an ihren Schreibtisch. Sie räumt ihn auf, aber auch das bringt sie nicht auf andere Gedanken. Einige Dinge erledigen sich durch den Papierkorb.

      Soll sie ihr Geheimnis preisgeben? Kollegialität und Missgunst wohnen in diesem Hause dicht nebeneinander. Friedfertigkeit am Arbeitsplatz – ein Wunschtraum oder nur eine scheinbare Kulisse? Gegenseitige Sticheleien – offen oder verborgen – sind an der Tagesordnung. Zudem werden die Mitarbeiter politisch bespitzelt, was das Betriebsklima nicht gerade verbessert. Kann ich meinem Nachbarn trauen? Die Informanten schnüffeln auch zum eigenen Vorteil. Der Sozialismus und ‚die Partei’ sind keine absolut selbstlosen Einrichtungen. Die Macht ist in diesem Hause klar verteilt. Macht und Recht treffen sich hier. Der Heuchelei sind Tür und Tor geöffnet: Schau her, so bin ich; in Wirklichkeit aber bin ich anders. Am schlimmsten aber ist, dass es geheime Machtstrukturen gibt, solche, die nicht offen zutage liegen, aber durch ihre untergründigen Verbindungen besonders unangenehm, ja für den Einzelnen gefährlich sind.

      Es klopft an der Tür.

      „Bitte.“

      „Entschuldigen Sie die Störung; ich verstehe nicht, warum ich bei der letzten Gehaltserhöhung nicht berücksichtigt wurde. Ich arbeite doch schon 4 Jahre hier und denke, dass ich meine Arbeit gut mache.“

      „Sie wissen doch, dass immer nur zwei technische Mitarbeiter im Jahr eine Erhöhung bekommen können; Sie sind noch nicht dran. Viele arbeiten gut. Vielleicht klappt es das nächste Mal oder bei einer Prämie. Jeder kommt mal dran.“ Umgeht Hela das in der DDR übliche System von Belohnung und Bestrafung im Gehaltswesen?

      Die Tür fällt infolge Verärgerung ins Schloss. Das auch noch, denkt Hela. Hatte sie nicht schon genug Sorgen?

      Das Telefon klingelt.

      „Tauber, ja bitte.“

      „Sie möchten bitte sofort zum Chef kommen!“

      Hela steigt ein bisschen mühsam die Treppen hinauf in den ersten Stock; irgendwie fällt ihr das heute schwer. Was will der Chef schon wieder? Kommt sie denn irgendwann mal zum Arbeiten? Im Vorzimmer des Chefs wartet die elegant gekleidete und gut frisierte Sekretärin mit undurchdringlicher und gewichtiger Miene.

      „Gehen Sie gleich durch“, sagt sie mit einer lässigen Handbewegung und ist sich dabei ihrer Machtstellung bewusst.

      Hela betritt das Chefzimmer, wo die graue Eminenz selbstbewusst am Diplomatenschreibtisch thront und Freundlichkeit heuchelt.

      „Nehmen Sie Platz.“

      Hela setzt sich verschüchtert an einen dem Schreibtisch gegenüber stehenden Tisch. Die Miene des etwas kränklich aussehenden, aber wohl beleibten Chefs verfinstert sich.

      „Woher kennen Sie diesen Mann?“

      „Welchen Mann?“, Hela schaut überrascht und ahnungslos.

      Sie ist seit 20 Jahren mit dem gleichen Mann verheiratet und hat einen 17-jährigen Sohn. Wird ihr jetzt eine Affäre angedichtet?

      „Kommen Sie näher!“

      Der Chef hält ein gedrucktes Etwas hoch. Hela will es ergreifen, er aber zieht seine Hand mit dem Schriftstück abrupt zurück.

      „Wie kommen Sie dazu, einen Sonderdruck aus dem Westen zu erhalten? Und wer ist der Verfasser überhaupt?“ Seine Stimme untermalt sein Selbstbewusstsein und seine Machtstellung.

      Hela zuckt nur die Schultern und bleibt die Antwort schuldig. Innerlich zittert sie. Diesen bekannten Wissenschaftler kennt der Chef natürlich nicht; er hat mit der Organisation genug zu tun. Erklärungen hält sie für unnötig. Sie bringen nichts. Warum hat der Autor diesmal den Sonderdruck nur an ihre Dienstadresse gesandt! Er hatte keine Ahnung, wie drastisch es in diesem Hause zugeht.

      Der Chef schaut sie noch einmal streng an. „Das geht in die Bibliothek unter Verschluss.“

      Hela


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