Chris Owen - Die Wiedergeburt. Matthias Kluger
Acht Tage nach der Verschleppung tauchte im Internet ein Video auf, in welchem sich drei vermummte Islamisten hinter einem in der Wüste knienden Amerikaner zeigten. Ein vierter Fanatiker, der ein großes Messer ansetzte und die Kehle des Soldaten durchschnitt, trug keine Sturmmaske. Der Junge konnte nicht älter als fünfzehn sein, dennoch säbelte er so lange am Kopf des Opfers, bis dieser abgetrennt war. Wie im Blutrausch hob der Jugendliche das rot besudelte Haupt in die Höhe, blickte direkt in die Kamera, lachte hämisch, während er kriegerische Parolen schrie. Hinter ihm wehten die drei Vermummten mit den schwarzen Fahnen des Terrors.
Weltweites Entsetzen!
Der amerikanische Präsident geriet in die Kritik und Kandidaten der kommenden Präsidentschaftswahl schlachteten die grauenhaften Bilder auf unmoralische Weise für sich aus. Die Umfragewerte der Demokraten sanken um sieben Prozentpunkte, obwohl jedem politisch interessierten Amerikaner bewusst war, dass die republikanische Partei die Streitkräfte im feindlichen Gebiet Syriens noch weiter ausbauen würde.
Eine Woche später brach das Interesse der Öffentlichkeit ab. Genauso wie bereits zuvor für den anhaltenden Konflikt in der Ostukraine, rund um die Provinzen Donezk sowie Luhansk. Gleiches galt für den Bürgerkrieg in Libyen, den der Islamische Staat mittels 21 Enthauptungen im Jahr 2015 medienwirksam für sich ausschlachtete. Ebenso ließ das Interesse am schwelenden Krieg im Sudan und Südsudan nach, wo unter anderem 2.000 Kinder als Soldaten unterwegs waren, blutige Schlachten zu gewinnen. Irak, Kongo, Somalia, Gaza Streifen, Afghanistan, Pakistan … Es verwundert nicht, dass in den bewaffneten Konflikten des 20. Jahrhunderts über 180 Millionen Menschen zu Tode kamen, mehr als in allen vorangegangenen Jahrhunderten zusammen. Und es war nicht der Plan, dies im 21. Jahrhundert zu ändern. Das Siegel des Roten Reiters war gebrochen.
Kapitel 13: Das dritte Siegel
Innenstadt Ouagadougou, Westafrika, November 2015
Niemand beachtete die Person, die eingehüllt in weißes Tuch die Avenue de l’Indépendance in westlicher Richtung ging. Ohne Hast wandelte die helle Mönchskutte auf das Musée de la Musique de Ouagadougou zu. Vor dem Museum nahm sie am Boden Platz. Einige Touristen, die das Museum soeben verließen, um sich zu ihrem Reisebus zu begeben, schielten im Vorbeilaufen auf jene Gestalt, die wie ein Mönch gekleidet mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze im Schatten der Hauswand saß.
Als die Urlauber nach und nach in den klimatisierten Bus stiegen, zählte die junge Reiseleiterin, freundlich lächelnd, die mitfahrenden Gäste. 23 Personen. 24 sollten es sein. Die schlanke Französin, die seit knapp einem Jahr Ingenieur- und Agrarwesen studierte, besserte während ihres Aufenthalts in Afrika ihr Taschengeld als Stadtführerin auf und verdrehte nun, der fehlenden Person wegen, die Augen. Sie nahm die drei Stufen des Busses, trat hinaus in die glühende Hitze und lief zum Eingang des Museums. In Gedanken darüber, wo ihr fehlender Reisegast abgeblieben sein könnte, nahm sie keine Notiz von dem Sitzenden, der soeben eine Schriftrolle aus der Kutte zog.
Gerade als die Reiseleiterin die Tür zum Museum öffnen wollte, trat eine Frau Mitte sechzig, Hawaiihemd, kurze lilafarbene Shorts sowie Sportschuhe, heraus. »Kommen Sie, Lady, Sie sind die Letzte der Gruppe, der Fahrer wartet schon!«
»Ich musste nur mal rasch, wenn Sie verstehen«, gluckste die Dame und entschuldigte damit ihren kurzen Gang zur Toilette. Noch während sie zum Bus marschierten, gab die Französin dem Fahrer von außen Zeichen, dass sie nun losfahren konnten.
Sie hörten nicht das gebetartige Gemurmel der Kutte von Tod und Krankheit, sahen nicht die fahle Haut des Trägers, erkannten nicht dessen starre Augen, die gebannt die Schriftrolle fixierten. Ebenso nicht das leise Knacken, als das Siegel der Pest und Seuchen brach.
Das Zischen der sich schließenden Bustüren wurde durch die Schreie der Urlauber übertönt, die in hektischer Aufruhr an die Fenster des Busses drängten und entsetzt Augenzeugen eines dramatischen Ereignisses wurden: Die weiße Kutte des Fremden stand plötzlich in Flammen, glich einer lebenden Fackel. Keine panischen Bewegungen, kein Versuch, um sich zu schlagen oder den um sich leckenden Flammen zu entgehen. Nein, mit erhobenen Armen stand er da, starr wie eine Statue gen Himmel blickend, während das gleisende Flammenmeer um seinen Körper züngelte.
»Fahren Sie, fahren Sie«, kreischte die Touristenführerin den Busfahrer an – aus Angst, im nächsten Moment würde eine Bombe in die Luft gehen. Sie hatte die Bilder des Terrors vor Augen, die erst wenige Tage zuvor ihre Heimatstadt Paris erschüttert hatten.
Kapitel 14: 9 Monate?
Washington, D. C., 28. Juni 2016
Sandra lag mit weit gespreizten Beinen auf dem Gynäkologenstuhl. Ihr Bauch hatte eine Dimension angenommen, die es ihr unmöglich machte, im Stehen die Füße zu sehen. Bewusst fiel ihre Entscheidung auf Dr. Sisley als Frauenärztin, da sie einen exzellenten Ruf genoss; zudem war sie, ebenso wie Sandra, eine Farbige. Noch unangenehmer wäre es Sandra gewesen, wenn ein männlicher Arzt sie in derart ausgelieferter Stellung untersucht hätte.
Dr. Sisley streifte die hauchdünnen Einmalhandschuhe ab und lächelte. »Sieht alles gut aus, Sandra. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Hatten Sie schon Anzeichen von Wehen?« Sandra schüttelte den Kopf. »Legen Sie sich kurz auf die Liege, dann machen wir den letzten Ultraschall.«
Sandra zog ihr Höschen an, bevor sie sich auf dem mit einem Papiertuch überzogenen Polster ausstreckte. Als Dr. Sisley das glibberige Gel der Tube pflaumengroß auf den Bauch tropfen ließ, fühlte Sandra dessen kühle Substanz. Mit der mobilen Kamera verstrich die Ärztin die gallertartige Masse und schaltete den Monitor an.
»Sehen Sie, er hat sich schon gedreht. Hier, sein Herz.« Dr. Sisley drückte einen Knopf und Sandra hörte dumpf aus dem kleinen Lautsprecher des Ultraschallgerätes die schnellen Herztöne ihres Kindes. Geschickt vermaß die Ärztin ein letztes Mal die Größe des Kopfes, des Rumpfes, der Arme sowie der Beine. »Das wird ein Prachtexemplar, Sandra. Freuen Sie sich darauf. Wollen wir noch ein Foto machen?«
Bevor Sandra antworten konnte, sah sie das Standbild ihres Babys. Eine winzige Stupsnase mit fünf wie Shrimps aussehenden Fingern davor. Der Drucker surrte leise, als eine Minute später der farbige Ausdruck auf dem Tisch lag. Dr. Sisley reichte Sandra ein feuchtes Tuch, um den Bauch zu reinigen.
»Hätten Sie noch eine Minute Zeit, Sandra?«
Während sich Dr. Sisley die Hände wusch, knöpfte Sandra ihre weite Stoffhose zu.
Dann saß sie vor dem weißen Besprechungstisch.
»Sandra, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, es geht mich eigentlich auch nichts an, aber – wann sagten Sie, sei Ihr Mann verstorben?«
Sandra ärgerte sich. Hätte sie doch nichts davon erzählt, dass der Erzeuger des Kindes ihr verstorbener Mann ist. Natürlich kannte Dr. Sisley die Zeitungsartikel, ebenso die Schlagzeilen des vergangenen Jahres. »Juni 2015«, erwiderte Sandra kleinlaut und ahnte, was nunmehr kam.
»Ihnen ist bewusst, dass das nicht sein kann?«
Sandra nickte. »Durchaus, Dr. Sisley.« Sie dachte nach. Bliebe sie bei der Erklärung, Stephen sei der Vater, würde ihr Dr. Sisley nicht glauben. Allerdings zu lügen, zu behaupten, sie hätte nur drei Monate nach dem Attentat in der Kirche Charlestons mit einem anderen Mann Sex gehabt – diese Unmoral zu äußern, kam nicht infrage. Daher wagte sie den Vorstoß: »Dr. Sisley, das Thema hängt wie ein Damoklesschwert über mir. Meine ganze Familie kann rechnen.«
»Hat es jemand angesprochen?«
»Nein und ich weiß nicht, was schlimmer ist. Darüber zu reden oder es totzuschweigen.«
»Von Frau zu Frau, Sandra, mir können Sie die Wahrheit sagen. Sie sollten sogar. Ich bin Ihre Ärztin und als solche für Ihre Gesundheit sowie die des Kindes verantwortlich.«
»Dr. Sisley, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Das letzte Mal, dass ich mit einem Mann geschlafen habe, war