Chris Owen - Die Wiedergeburt. Matthias Kluger

Chris Owen - Die Wiedergeburt - Matthias Kluger


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studierte Lehrkraft mit der christlichen Lehre vertraut, gruppierte sich Daniela eher in die Kategorie der Agnostiker ein, also jener, die sich nicht ausdrücklich zu etwas bekennen. Sie lehnte weder eine Gottesvorstellung ab noch hielt sie es für unmöglich, dass neben der »realen Welt« etwas anderes, Mächtigeres existierte. Doch die aufgezählten Namen waren ihr vertraut. »Sprichst du von einem Engel?«

      »Erzengel. Erzengel Michail«, korrigierte Chris die Frage.

      »Erzengel Michail ist also dein Freund. Und er steht direkt da drüben.« Ohne sich umzudrehen, nickte Daniela mit ihrem Kopf nach hinten zur Wand. Stumm bejahte Chris durch seinen Blick die Frage. »Ist dies das Geheimnis, von dem du mir erzählen wolltest?« Das Leuchten in Chris’ Augen verriet Daniela, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Sie überlegte kurz, wie sie mit dieser seltsamen Information umgehen sollte. »Wie habt ihr euch denn kennengelernt?«

      »Ich habe ihn gerufen und erklärt, dass er mir zur Seite stehen muss.«

      »Dir zur Seite stehen?« Daniela sah Chris entgeistert an.

      Dieser überlegte kurz und beschloss, dass er womöglich schon zu viel preisgegeben hatte. »Jetzt würde ich doch gerne in den Garten zu Meira gehen«, wiegelte er daher ab.

      »Nur einen kurzen Augenblick noch, Chris. Michail ist also dein Freund, weil du ihn gerufen hast. Wie lange kennst du ihn denn schon?«

      »Schon lange. Da war ich noch nicht hier.«

      »Was meinst du damit, du warst noch nicht hier?«, fragte Daniela verdutzt.

      »Na, eben nicht hier.«

      »Wo warst du denn, als du ihn kennengelernt hast?«

      »Ich fand ihn im Schützengraben, als ich direkt aus Immerzeit kam.«

      Völlig verwirrt starrte Daniela den Kleinen an. »Schützengraben, Immerzeit? Ich verstehe nicht!«

      Chris dachte nochmals nach, dann traf er eine Entscheidung. Sicher würde es ihm besser gehen, da Daniela ihm doch versichert hatte, nicht krank im Kopf zu sein und auch nicht eingesperrt zu werden.

      »Als ich nach Immerzeit kam, hat mir Aba von meiner Aufgabe erzählt. Also suchte ich Michail auf, der zum Mensch geworden war und gegen die Deutschen kämpfte. Dort im Schlamm des Schützengrabens fand ich ihn, gerade als er seinen Bruder Pjotr verlor. Als Michail wenige Stunden nach unserem Treffen nach Immerzeit zurückkehrte, hielt er den Schwur mir gegenüber und seither sind wir Verbündete.«

      »Was ist Immerzeit, Chris?«

      »Immerzeit ist hier und jetzt. Das Reich der Seelen – der Sperlinge.«

      »Das Reich der Seelen und Sperlinge?«, wiederholte Daniela flüsternd. »Warum kann ich Michail nicht sehen?«, bohrte sie weiter.

      Chris zuckte die Schulter. »Es ist das Reich von Thron. Zeitlos, denn von dort werden sie kommen.«

      »Du sprichst in Rätseln«, meinte nun Daniela, der es allmählich unheimlich wurde. In ihr keimte Misstrauen auf. Was, wenn Chris sich das Ganze nur ausgedacht hatte, seine Vorstellungskraft ihm selbst einen Streich spielte? »Könnte es sein, dass du dir das Ganze nur einbildest?«, fragte sie daher.

      »Zuerst hatte ich Angst davor. Ich wusste selbst nicht, wo die Grenze dessen ist, was ich sehe. So, als ob es zwei Chris in mir gibt. Schon als Säugling konnte sich der eine Chris in mir mit Michail unterhalten. Mehr und mehr erkannte ich, wer ich war und wer ich bin. Wir sind eins. Chris aus Immerzeit bin ich hier auf Erden. Und Michail steht mir zur Seite.«

      »Also bist du dir sicher, dass es keine Einbildung ist?«, hakte Daniela nach, im Wissen, dass, egal was Chris ihr noch alles offenbaren würde, es dennoch ein Fantasiegebilde sein könnte.

      Chris sah ihr tief in die Augen, dann wandte sich sein Blick zu Michail. Minutenlang starrte er wie hypnotisiert die Wand an. Als er wieder zu Daniela sah und sprach, waren seine Worte fest und überzeugend: »Nur weil du nicht sehen kannst, bedeutet dies kein Negieren der Existenz. Die Fantasie, der Glaube sind feste Bestandteile unseres Seins. Ergebenheit, die den Menschen mehr und mehr abhandenkommt. Ich spüre, was du denkst. Ebenso deine Unsicherheit. Diese empfand ich gleichermaßen zu Beginn meiner Erkenntnis. Frage Lea, sie hat Michail gesehen und sprich mit Olivia über Aba. Sie kennen sich. Dann kehrt auch dein Glaube zurück. Doch kein Wort zu meiner Mutter – hörst du.«

      Daniela war wegen der Rhetorik wie auch des Inhalts von Chris’ Aussage verstört. Dies entsprach so gar nicht einem Sechsjährigen. »Warum darf Sandra nichts davon erfahren?«

      »Sie ist noch nicht so weit. Doch es soll nicht mehr lange dauern, bis sie die ganze Wahrheit erfährt.«

      Die Wortwahl, dieser Junge, wie er mit schneeweißer Haut und leuchtend roten Augen vor ihr saß, die Vorstellung eines unsichtbaren Erzengels im Nacken – Daniela lief ein Schauer über den Rücken. »Das ist ganz schön starker Tobak! Lass uns für heute Schluss machen!« Daniela rang sich ein Lächeln ab.

      »Hab doch keine Angst vor mir«, kam die kindliche Bitte von Chris.

      Zu Hause angekommen, nahm Daniela eine heiße Dusche. Mit Wollsocken, Jogginghose und kurzem grauem Shirt saß sie mit angewinkelten Beinen in ihrem Bett. Sie schloss die Augen und ließ das heutige Gespräch Revue passieren. Ihr stellten sich sprichwörtlich die Nackenhaare auf, als sie die Unterhaltung mit Chris Wort für Wort zu Papier brachte.

       Kapitel 39: Olivia und Fredrik

      »Schön, dass wir uns kennenlernen, Miss Rudolph. Unsere Schwiegertochter ist ja ganz begeistert von Ihnen.«

      »Danke für die Blumen.« Daniela fühlte sich einerseits geschmeichelt, andererseits auch eingeschüchtert, jenem Mr. Haskins gegenüberzusitzen, der eine der größten Warenhausketten des Landes, Haskins Corporation, sein Eigen nannte. Gerade eben war sie per Aufzug direkt in das luxuriös eingerichtete Apartment in der Nähe des Capitols gelangt und saß nun Mr. und Mrs. Haskins im geräumigen Wohnzimmer gegenüber.

      »Und Sie erteilen unserem Chris Privatunterricht? Ist sein Intellekt nicht bemerkenswert?«, fragte Fredrik, während er sich mit einem langen Streichholz eine Pfeife anzündete, eine – so empfand es seine Frau Olivia – Unart, die er sich kurz nach Stephens Tod zugelegt hatte.

      »Ja, ja, ganz erstaunlich«, antwortete Daniela, während ihr der Vanillegeruch des Pfeifenrauchs in die Nase stieg. »Chris hat mich gebeten, Sie aufzusuchen«, begann sie, um allmählich zum Kern ihres Besuches vorzustoßen.

      »Ist etwas passiert?«, kam es postwendend von der besorgten Oma Olivia.

      »Nein, nein, ganz im Gegenteil, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen Ihrer Schwiegertochter Sandra gegenüber habe.«

      »Wieso das denn?«, fragte Fredrik.

      »Sandra soll nicht – noch nicht – erfahren, dass ich mit Ihnen spreche«, gab Daniela wahrheitsgemäß Auskunft.

      »Was hat er denn angestellt?«, wollte Fredrik wissen.

      »Chris hat nichts angestellt. Vielmehr ist es so, dass er der Überzeugung ist, Sie könnten mir helfen, Licht in seine Erzählungen zu bringen.«

      »Was meinen Sie, Miss Rudolph?«, hakte Olivia nach.

      »Wenn ich das so genau wüsste. Er hat mir von seinem Freund erzählt, einem, wie soll ich sagen, imaginären Freund.«

      »Imaginären Freund?« Olivias Stirn warf Falten.

      »Ja, von seinem Freund – jetzt halten Sie sich fest – Erzengel Michael – also, Chris nennt ihn Michail, warum auch immer.«

      »Michael, Michail, Erzengel. Da hat er aber eine rege Fantasie, mein Enkel!« Fredrik blies eine dichte Rauchwolke aus.

      »Ich bin mir nicht sicher, ob es nur ein Fantasiegebilde ist. Chris bemerkte meine Skepsis und hat mir empfohlen, zu Ihnen zu gehen. Deswegen bin ich hier. Allerdings musste ich ihm


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