Steh auf und geh. Arnold Mettnitzer

Steh auf und geh - Arnold Mettnitzer


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      Dazu kommt, dass Religion im Moment so etwas wie der Stachel im Fleisch vieler zu sein scheint. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Religion“, hat der Philosoph Peter Sloterdijk vor einigen Jahren schon formuliert und damit einer eigenartigen Angst Ausdruck verliehen. Unbestreitbar ist, dass Religionen natürlich auch gefährlich sein können und in ihrer politischen Gegenwart mit fundamentalistischer Erregungskraft wie ein Sprengkopf wirken. Mit der Religion steht etwas Unkontrollierbares im Raum. Das zeigt sich an der Empfindlichkeit „hochreligiöser“ Menschen. Wer Gott beleidigt, verletzt heiligste Gefühle und damit diejenigen, die an ihn glauben. Darum muss hier unmissverständlich gesagt werden, dass in diesem Buch zwar oft in der Sprache der Bibel von „Gott“ geredet wird, damit aber nicht die Gottesfrage im eigentlichen Sinn behandelt werden will. Gott wird hier weder bewiesen noch geleugnet, sondern als biblischer Ausdruck für innere Verankerung, Orientierungshilfe und persönlichen Halt wertgeschätzt.

      Auch die fundamentale Bedeutung des Ersten und Zweiten Testaments für das Judentum und Christentum ist nicht das Anliegen dieses Buches, vielmehr die in beiden Testamenten verborgene tiefe Weisheit und ein Erfahrungsschatz, der die Bibel über alle religiösen Grenzziehungen hinaus als Lehrmeisterin des Lebendigen ausweist. „Die Wahrheit“, hat jemand gesagt, „ist symphonisch“5, ein Zusammenklang aus vielen Einzelstimmen; dabei ist jede Stimme wichtig und wertvoll, weil sie aus dem Leben, aus konkret-persönlicher Lebenserfahrung kommt. Unterschiede bedeuten dabei nicht Trennung, sondern verschiedene Farben von Wahrheit. Ein Ausspruch des altindischen Herrschers und Buddhisten Ashoka bringt die buddhistische Ansicht auf den Punkt:

       „Wer seiner eigenen Religionsgemeinschaft Ehre erweist und die Religionsgemeinschaften anderer verachtet, allein aus Anhänglichkeit gegen die eigene, mit der Absicht, den Glanz der eigenen zu erhöhen, der fügt in Wahrheit seiner eigenen Gemeinschaft schwersten Schaden zu.“6

      Nicht weniger beeindruckend ist das Wort von Mahatma Gandhi:

       „Ich glaube an die Bibel, wie ich an die Gita glaube. Ich halte alle die großen Glaubensbekenntnisse der Welt für ebenso wahr wie mein eigenes. Es tut mir weh zu sehen, wann immer eines von ihnen verzerrt wird.“7

      Wer die Bibel mit solchen Augen zu lesen versucht, wird Berührungsängste ablegen und staunen können, wie modern das älteste Buch der Welt ist, wie ewig jung und aktuell seine Perspektiven erscheinen. Diese bündeln sich in einem Anleiten zum „Weise-werden im Raum der Güte“8, wobei die Sorge um die Identität des Einzelnen und sein Wohlergehen als Grundlage für eine tragfähige Gemeinschaft an erster Stelle stehen.

      Das Individuum steht also im Zentrum der Betrachtung. Um diese Identität zu schaffen und zu stärken, gibt es zumindest drei große Erzählstränge in der Bibel. Der Erste zeigt zunächst einmal einen Weg aus der Sklaverei in die persönliche Freiheit auf, der Zweite kümmert sich um das von den Propheten eingemahnte Thema der Reinigung, Klärung, Korrektur und Klarheit und der Dritte legt den Schwerpunkt auf die Erfahrung der Sinn- und Identitätskrise beziehungsweise deren Bewältigung. Biblische Sinn- und Krisenbewältigung erfolgt aber nicht durch beeindruckende Heldentaten, sondern durch persönliche Erfahrungen aus Beispielgeschichten. Dem Leser der Bibel wird rasch klar, dass der biblische Mensch kein gefinkelter Theologe, sondern ein bodenständiger Praktiker ist, der bei allen Unterschieden zum heutigen Menschen zumindest darin mit ihm vergleichbar zu sein scheint, dass auch er schon durch ein vielseitiges Überangebot von Lebensgestaltungsmöglichkeiten verunsichert, gebeutelt und verwirrt ist, nach Orientierung Ausschau hält und oft nur sinnlose Leere ohne Hoffnung und Begeisterung vorfindet.

      In der rabbinischen Tradition findet sich die Geschichte eines jungen Flüchtlings, der in eine Stadt kommt, deren Bewohner ihn bereitwillig aufnehmen und verstecken. Dann kommen Soldaten auf der Suche nach dem Flüchtling, doch die Bewohner der Stadt behaupten, von nichts zu wissen. Die Soldaten schöpfen Verdacht und kündigen an, die ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen, wenn der Flüchtling nicht bis zum nächsten Morgen ausgeliefert wird. Voller Angst kommen die Menschen zu ihrem Rabbi, um ihn um Rat zu fragen. Tief besorgt beginnt er, in der Schrift nach einer Antwort zu suchen. Die ganze Nacht liest er, ohne etwas zu finden. Kurz vor Sonnenaufgang fällt sein Blick auf den Satz: „Es ist besser, dass einer für das ganze Volk stirbt, als dass alle zugrunde gehen.“10 Er ist sich sicher, dass das die Antwort ist und kommt damit zu den Stadtbewohnern. Sie sagen den Soldaten, dass der junge Mann tatsächlich bei ihnen versteckt ist und er wird abgeführt. Der Rabbi aber ist nicht beruhigt. Er setzt sich nochmals über seine Bücher. Ein Engel erscheint und fragt ihn, was er für ein Problem habe. „Ich bin mir einfach noch nicht sicher, ob es richtig war, den jungen Mann auszuliefern“, sagt der Rabbi. Der Engel antwortet: „Wusstest du nicht, dass das der Messias ist?“ Ungläubig schaut ihn der Rabbi an: „Wie hätte ich das wissen können?“, fragt er. „Hättest du dir die Zeit genommen, den jungen Mann aufzusuchen und ihm in die Augen zu schauen, anstatt in den Schriften zu suchen“, entgegnet der Engel, „hättest du gesehen, dass er der Messias ist.“ Wer die Schrift, aus der der Rabbi liest, vom Leben loslöst, verzerrt ihren Inhalt. Wer die Geschichten von den Menschen loslöst, zu deren Zeit sie entstanden sind, versteht sie falsch. Die Autorität „heiliger“ Schriften liegt darin, dass sie über sich selbst hinaus verweisen auf Menschen und die Geschichte ihrer Erfahrungen. Wer das Buch zum Götzen macht, macht die Worte zur letzten Wahrheit und kommt in Schwierigkeiten, so wie der Rabbi in der Geschichte. Wo Schriften und Regeln wichtiger werden als die konkrete Not eines Menschen, verkommt die Sorge um das Wohl eines Menschen zum Lippenbekenntnis.

      Eugen Drewermann warnt an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes, dass eine Auslegung heiliger Texte, die in der historischen Distanz des gelehrten Bildungswissens daherkommt, von der unmittelbaren Ergriffenheit nichts transportieren könne und in ihrem ganzen Wesen unreligiös und zum Zeugnis gegen sich selber verkommen müsse. Geschichten berühren uns dann, wenn sie uns innerlich anrühren, wenn statt Erinnerung „Verinnerung“ möglich wird; statt „Begriffenhaben“, „Ergriffensein“. Alles andere wäre Heuchelei und Mummenschanz.11

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