Tatort Genfer See. Anna Maria Sigmund
einquartierte.
Tatsächlich waren die Straßen sehr belebt, man kam nur langsam voran. Zuerst suchten die beiden Damen die berühmte Konditorei auf dem Boulevard du Théâtre auf, wo sie vor dem Lokal Platz nahmen, um genüsslich mehrere Portionen Eis zu verzehren und den lauen Abend zu genießen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit wurden noch einige Einkäufe getätigt, bis man sich auf den Heimweg machte. In der Finsternis verirrten sich jedoch die beiden und die Hofdame ergriff, wie sie später berichtete, ein namenloser Schrecken. Allein in einer von Bösewichten wimmelnden Stadt! Kaiserin und Hofdame irrten durch die engen Gassen und kamen dabei ganz nahe an der Rue d’Enfer vorbei, wo sich Luigi Lucheni, gut vorbereitet für den nächsten Tag, um diese Zeit in seiner ärmlichen Unterkunft zu Bett begab. Schließlich traf Elisabeth, die vollkommen ruhig dahin spazierte, mit ihrer Begleiterin gegen 10 Uhr abends im Hotel Beau-Rivage ein. Die fromme Hofdame sprach erleichtert ein Dankgebet.
Auch der 10. September 1898 schien für die Kaiserin eine Fortsetzung des Wohlgefühls der letzten Tage zu bringen. In bester Laune und mit frischem Aussehen begab sich die Kaiserin im Laufe des Vormittags mit Irma Sztáray in die Rue Bonivard zum Geschäft des Orgelbauers Bäcker, wo sie sich für ein Orchestrion interessierte. Dieser mechanische Musikautomat, der ein ganzes Orchester imitieren konnte, erfreute sich damals in den Salons und den großen Hotels großer Beliebtheit. Elisabeth hörte Ausschnitte aus Aida, Carmen und Rigoletto, dann ihre Lieblingsoper Lohengrin. Schließlich beauftragte sie ihre Begleiterin, den Kauf eines Geräts der Marke Ariston mit 24 Piecen abzuwickeln und das Instrument ihrer Tochter nach Schloss Wallsee schicken zu lassen.
Wie Passanten später aussagten, hatte inzwischen Luigi Lucheni schon den ganzen Vormittag beim Hotel Beau-Rivage herumgelungert. Er hatte sich auf eine Bank auf dem Quai du Mont-Blanc gesetzt, in auffälliger Weise den Hoteleingang fixiert und sich mit einem älteren, im Gegensatz zu ihm selbst wohlgekleideten Herrn unterhalten. Ob dieser Unbekannte ein Helfer aus der Anarchistenszene gewesen war, konnte nie eruiert werden. Lucheni schien die Gelegenheit für sein geplantes Vorhaben nicht spektakulär genug. Keinesfalls wollte er ein Verbrechen begehen, das man vielleicht als Raubmord interpretieren könnte. So erreichten Elisabeth und die Gräfin langsam schlendernd und den Sonnenschein genießend unbehelligt ihre Unterkunft.
»Es gab keine Rückkehr!«: Notizen aus dem Umfeld der Kaiserin zum Fahrplan Caux–Genf, Hotel Beau-Rivage, und retour.
Um 1 Uhr 35 verließ die Kaiserin, für die Fahrt mit dem Schiff umgezogen, erfrischt durch ein Glas Milch und ehrerbietig vom Direktor verabschiedet, zusammen mit Irma Sztáray das Hotel. Auf dem Kai blieb sie stehen, um ein für die Jahreszeit ungewöhnliches Phänomen, nämlich die blühenden Kastanienbäume zu bewundern. Sie blieb ruhig und gelassen, obwohl die Schiffsglocke bereits das Signal zur Abfahrt gab und die Hofdame zur Eile drängte.
Dann jedoch geschah Erstaunliches. Plötzlich tauchte eine schäbige Gestalt auf, sprang wie gehetzt von einem Alleebaum zum anderen, rannte kreuz und quer über das Trottoir und stürmte dann frontal auf die Kaiserin und ihre Begleiterin los. Der kleine, stämmige Mann hielt nur kurz inne, um einen Blick auf die Dame unter dem weißen Sonnenschirm zu werfen. Er schien zufrieden – das Schicksal der Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn war in diesem Augenblick besiegelt.
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