Ein kleines Stückchen Seligkeit. Pam Rhodes
»Das tut Weihnachten auch!«, entgegnete Margaret mit einem Augenzwinkern. »Geht es vielleicht auch ein bisschen schneller?«
Harry grinste, als Neil rot wurde und nach vorn eilte, um dort seinen Platz einzunehmen.
Neil hatte es schon immer als beruhigend und hilfreich empfunden, den vor ihm liegenden Tag ganz in Gottes Hand zu legen. Die vertrauten Worte des Morgengebetes an seinem ersten Tag als Vikar in der neuen Gemeinde zu sprechen fühlte sich ganz besonders und sehr persönlich an, und am Ende der kurzen Andacht war Neils Stimmung beschwingt, und er war zuversichtlich in Bezug auf alles, was ihm der neue Lebensabschnitt bringen würde. Er hatte gehofft, hinterher noch kurz mit Harry reden zu können, aber anscheinend war der alte Mann sofort nach Ende der Andacht wieder gegangen. Wer allerdings unbedingt noch ein paar Worte mit Neil wechseln wollte, war Margaret.
»So!«, sagte sie in barschem Ton. »Ich habe jetzt einen Termin mit einer Frau aus der Gemeinde, die zurzeit heftige familiäre Probleme hat. Ich glaube es wäre ihr lieber, wenn ich erst einmal allein komme. Ich stelle sie Ihnen dann zu gegebener Zeit vor – und am Sonntagmorgen werden Sie ja sowieso der ganzen Gemeinde vorgestellt. Am Sonntag ist der Gottesdienst bestimmt besonders gut besucht, denn wo Sie jetzt endlich da sind, wollen eigentlich alle kommen, um Sie zu begutachten.«
»Ach«, seufzte Neil, für den wegen seiner angeborenen Schüchternheit die Aussicht, von den Gemeindegliedern beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden, höchst erschreckend war, »dann hoffe ich mal, dass sie nicht enttäuscht sind.«
»Na, das liegt ja nun ganz bei Ihnen!«, entgegnete Margaret daraufhin, und Neil war richtig erleichtert, als er sah, wie ihr trotz ihrer knappen, fast barschen Entgegnung ein weiches Lächeln übers Gesicht huschte.
Und sie hatte natürlich recht. Natürlich war sein Leben das, was er daraus machte. War das nicht auf dem ganzen Weg, den er bis jetzt schon hinter sich hatte, der springende Punkt gewesen? Urplötzlich kam ihm das Bild seiner Mutter mit ihrer gewohnt verbitterten und enttäuschten Miene in den Sinn, und er straffte unwillkürlich die Schultern und zog seine Jacke an.
»Und was soll ich tun, solange Sie weg sind?«
Margaret schaute kurz auf ihre Uhr und sagte dann: »Es ist jetzt Viertel nach neun, um halb zehn beginnt im Gemeindesaal der Spielkreis. Fragen Sie einfach nach Barbara, das ist die Mitarbeiterin, die für den Spielkreis zuständig ist. Lassen Sie sich kurz dort sehen und sagen Sie Hallo. Das ist bestimmt auch eine gute Möglichkeit, ein paar der Leute hier aus dem Ort kennenzulernen. Danach können Sie gern wieder ins Pfarrhaus kommen, dann essen wir dort zusammen eine Kleinigkeit zum Mittag. Ich werde Frank bitten, uns ein Sandwich zu basteln, und danach können wir uns anschauen, was diese Woche so anliegt und einen Arbeits- und Aufgabenplan für Sie machen, ja?«
»Ja, gut!«
Als die gefürchtete Kirchentür ge- und auch verschlossen war, ging Neil einfach hinter Margaret her.
»Neil.« Margarets Stimme klang betont geduldig. »Ich gehe in diese Richtung, weil mein Haus in dieser Richtung liegt. Sie gehen zum Gemeindesaal – und der ist da drüben!«
Er spürte, wie sie ihn mit beiden Händen fest an den Schultern packte und umdrehte, sodass er genau in die entgegengesetzte Richtung schaute.
»Den Weg dort entlang zu dem großen Gebäude, bei dem es durchs Dach regnet, mit den Fenstern, die unbedingt einen frischen Anstrich bräuchten. Sie können es gar nicht verfehlen!«
Und mit diesen Worten ging Margaret zielstrebig ihres Weges. Auch Neil machte sich auf den Weg, allerdings sehr viel langsamer und zaghafter, und dabei schaute er sich die Namen auf den Grabsteinen zu beiden Seiten des Weges an. Die meisten davon waren hundert Jahre alt oder sogar noch älter, aber sein Vater hatte ihm beigebracht, sich bei den Namen, Daten und manchmal auch kurzen Inschriften auf den Grabsteinen die entsprechenden Geschichten der Personen vorzustellen. Er blieb kurz stehen, um zu überlegen, was wohl das Schicksal der Familie von William Stephen Allard gewesen war, den man 1868 zur letzten Ruhe gebettet hatte, nur drei Jahre nach seiner jungen Frau Mary, die im Kindbett gestorben war. Mutter, Vater und Kind waren im selben Grab begraben – für immer vereint. Neil fragte sich, woran William wohl gestorben sein mochte, an einer zur damaligen Zeit üblichen Krankheit – oder an gebrochenem Herzen? Als Neil weiterging, war er voller Mitgefühl. Der von Buchen gesäumte Weg war gesprenkelt von dem Sonnenlicht, das seinen Weg zwischen den roten und grünen Blättern der ausladenden Äste hindurchfand. Als Neil hinter die Reihe von Buchen schaute, bemerkte er, dass das Gelände dort abschüssig war, wahrscheinlich zum Fluss hin, den Harry vorhin erwähnt hatte. Irgendwo dort hinten musste also Roses Grab sein – und es dauerte gar nicht lange, da hatte Neil es tatsächlich gefunden. Es war prachtvoll bepflanzt mit Primeln, die in allen Farben leuchteten – ganz sicher Harrys Werk. Es war deutlich zu erkennen, dass hinter der phantasievollen Gestaltung und offensichtlichen Pflege des Grabes mehr steckte als nur Pflichtgefühl oder Gewohnheit. Das hier war seine Rose, und die Pflanzen wurzelten in Liebe.
Neil wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als die Kirchturmuhr zur halben Stunde schlug. Er kehrte also rasch wieder um zum Hauptweg und erreichte kurz darauf das schmiedeeiserne Tor, durch das es weiter zum Gemeindesaal ging. Das Tor hatte ganz offensichtlich schon bessere Tage gesehen, denn als Neil den Riegel hochhob und versuchte, es aufzudrücken, rührte es sich nicht. Er stieß daraufhin ein paar Mal, schon etwas heftiger, mit der Handfläche dagegen, und als auch das nichts nützte, gab er dem Tor schließlich einen Tritt, hinter dem der gesamte, geballte Frust steckte, den er verspürte. Doch auch diese Maßnahme blieb völlig wirkungslos. Das Tor blieb zu.
»Ziehen!«, hörte er eine Stimme sagen.
Neil drehte sich abrupt um und sah sich dem kühlen Blick der grünsten Augen ausgesetzt, die er jemals gesehen hatte. Sie gehörten einer zierlichen jungen Frau mit Igelfrisur in Gummistiefeln, die ihm, auf eine Gartenforke gestützt, mit der sie allem Anschein nach gerade in einem der Blumenbeete gearbeitet hatte, mit abgeklärtem Interesse zuschaute.
»Nicht drücken, sondern ziehen. Es geht nach innen auf.«
»Ach so!«, murmelte Neil und lief hochrot an, als er merkte, dass sich das Tor mit Leichtigkeit aufziehen ließ.
»Sie müssen der neue Vikar sein«, fuhr Grünauge fort. »Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie ein Problem mit Riegeln und Schlössern haben.«
»Eigentlich gar nicht«, entgegnete Neil mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte. »Ich bin auf dem Weg zum Gemeindesaal.«
»Durch das Tor und dann nach rechts. Der Seiteneingang ist offen.« Und dann verzog sie ihr Gesicht plötzlich zu einem spitzbübischem Grinsen und fügte noch hinzu: »Aber vielleicht ja auch nicht, wenn Sie davorstehen. Soll ich lieber mitkommen, damit Sie damit zurechtkommen?«
»Ich komme schon allein zurecht, danke«, entgegnete Neil steif. »Guten Tag.«
Und als er weiterging mit einer, wie er hoffte, Aura der Selbstsicherheit, konnte er sich ganz genau den amüsierten Blick vorstellen, mit dem sie ihm nachschaute.
Am Ende war es dann kein Problem, durch den Seiteneingang ins Gemeindehaus hineinzugelangen, aber es erwies sich als echte Herausforderung, sich zu orientieren, als er erst einmal in dem Gebäude war. Der besagte Seiteneingang führte nämlich in eine große Eingangshalle, die an beiden Seiten mit Garderobenhaken und Bänken ausgestattet war – zumindest war es das, was Neil durch den Pulk schwatzender, gelegentlich schreiender Kinder und ihrer Mütter sehen zu können glaubte, wobei die Mienen Letzterer von völlig vernarrt bis völlig entnervt reichten, während sie ihren aufgeregten Nachwuchs aus Jacken und Stiefeln pellten und ihm Hausschuhe und quietschbunte Overalls anzogen.
»So, bitte ein bisschen leiser jetzt! Vergesst nicht, eure Namensschildchen anzukleben, damit auch jeder weiß, wer ihr seid!«, war über das ganze Chaos hinweg eine Stimme zu hören, die Autorität ausstrahlte. »Du willst als Erstes in den Sandkasten, nicht wahr, Joseph? Dann geh mal los und suche Debbie, die ist heute fürs Sandspielen zuständig. Lass das Phoebe, ja? So ist brav! Schau mal, da drüben wartet Amy schon auf dich. Dahinten im Spielhaus, siehst du? Ach, da bin ich aber froh, dass ich Sie sehe, Mrs.