Was sie nicht umbringt. Liza Cody
klopfte an seine Garderobentür. Leider war er nicht allein, wie ich gehofft hatte. Eigentlich nicht überraschend. Richtig nette Typen gibt es nicht so viele, und Harsh kann einfach jeder gut leiden.
Seine Freundin machte mir die Tür auf. Ich kann sie nicht ausstehen. Na ja, ich sage zwar, ich kann sie nicht ausstehen, aber eigentlich kenne ich sie gar nicht. Sie ist ein winziges Persönchen, und in dem eisvogelblauen Sari, den sie heute Abend trug, sah sie wie eine Prinzessin aus. In ihrer Nähe komme ich mir immer vor wie ein Heuhaufen in einem Hurricane. Ich hätte mich lieber doch waschen sollen.
»Hallo, Eva«, sagte Harsh. Er stand an der Wand und dehnte seine Achillessehnen. Er gehört zu den wenigen, die sich vor dem Kampf anständig warm machen. Darum hat er auch seltener Verletzungen als die meisten anderen. Außerdem hat er eine tolle Körperbeherrschung. Ich wärme mich auch richtig auf. An der Körperbeherrschung arbeite ich noch.
»Möchtest du eine Cola, Eva?«, fragte Soraya. Sie hat reizende Manieren, aber ich kann sie trotzdem nicht leiden.
»Ich wollte gerade gehen«, sagte ich. Es war immerhin möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Harsh vorschlug, ich sollte noch bleiben, und mich hinterher in die Stadt mitnahm.
»Bis nächste Woche dann«, sagte er.
»Wir übernachten in Bath«, sagte Soraya zu mir. Und dann fiel mir ein, dass alle außer Stella der Bombe und mir noch einen Auftritt im Pavillon hatten.
»Also dann, bis die Tage«, sagte ich, als ob ich wunschlos glücklich wäre.
»Gute Nacht, Eva«, sagte Soraya. Und Harsh lächelte mich an. Er hat ein wunderbares Lächeln, der Harsh. Strahlend weiße Zähne, alle genau in der richtigen Größe.
Wenn ich genug Kämpfe an Land ziehen kann und wenn ich mich in der Meisterschaft einigermaßen gut schlage, dann lasse ich mir die Zähne richten. Ich kenne einen wirklich guten Zahnarzt, und ich spare auch schon darauf, aber so was geht ganz schön ins Geld.
2
Auf Schlacke kannst du nicht schleichen.
Diesen Trümmerhaufen nennen sie das Grand Theatre, dabei ist noch nicht mal der Parkplatz auf der Rückseite besonders grandios. Kunterbunt stehen die Wagen auf Schotter und Schlacke durcheinander. Das Grand Theatre! Ein grandioser Witz.
Immerhin war der Parkplatz nicht beleuchtet. Das ist das Gute an den beschissenen Auftritten im Möhrenland – die Parkplätze sind nie beleuchtet. Du könntest fast meinen, sie wollen, dass du dich selber bedienst.
Ich fand einen Renault 12, der mich quasi einlud, ihn mir auszuborgen – die Fahrertür schloss nicht richtig, und die Verkabelung war lose. Als ich ihn angelassen hatte, sah ich, dass der Tank noch fast voll war.
Eigentlich tat ich dem Besitzer einen Gefallen – vorausgesetzt, er war versichert.
Wozu sich Sorgen um eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt machen, wenn dir die Möhrenmampfer ihre Autos praktisch hinterherwerfen?
Obwohl es noch nicht besonders spät war, als ich in Frome losfuhr, war kaum mehr einer auf den Straßen. Dadurch fühlte ich mich irgendwie einsam. Ich habe gern ein bisschen Trubel um mich rum, aber so was kannst du im Möhrenland lange suchen. Wahrscheinlich gehen sie alle früh in die Heia, nachdem sie sich ihre Mary-Poppins-Videos reingezogen haben. Nicht mal eine offene Frittenbude konnte ich finden. Was diese Landeier wohl treiben, wenn sie mal Spaß haben wollen?
Ich hatte Hunger. Wer so gebaut ist wie ich, braucht nach sportlicher Betätigung was zu essen. Aber ich habe noch einen kostenlosen Rat auf Lager: Halte nie in einer Kleinstadt, in der du dir gerade einen Wagen geborgt hast, an, um dir was zum Essen zu besorgen. Jeder ist mit jedem verwandt, einer sieht dich immer und holt die Bullen.
Ich hatte mir in den letzten paar Jahren viel Selbstbeherrschung angeeignet. Also fuhr ich stur an allen Kneipen vorbei und hörte nicht auf meinen knurrenden Magen.
Harsh hat mir mal was über den berühmtesten Ringkämpfer aller Zeiten erzählt. Er hieß Milon von Kroton, und er hat im Training immer ein Kalb durch die Gegend gewuchtet. Immer dasselbe Kalb. Das Kalb wurde größer und schwerer, und Milon musste stärker und immer stärker werden, um es überhaupt noch schultern zu können. Harsh meinte, Milon wäre seiner Zeit voraus gewesen, und mit dieser Geschichte ging es ihm um die Grundprinzipien des Krafttrainings und darum, dass man die Muskeln langsam an immer größere Belastungen gewöhnen muss.
Milon hat fünf olympische Medaillen gewonnen, also würde ich mir an deiner Stelle eine höhnische Bemerkung über seine Trainingsmethoden lieber verkneifen. Hätte Milon von Kroton allerdings Ähnlichkeit mit mir gehabt, hätte er sein Kalb früher oder später mit Röstkartoffeln und viel Soße verspeist.
Es ist nicht ratsam, an Röstkartoffeln zu denken, wenn du halb verhungert bist — jedenfalls nicht, wenn du unbeschadet an der nächsten Dönerbude vorbei und in einem geliehenen Wagen aus der Stadt kommen willst, ohne geschnappt zu werden.
Ich hasse es auf dem Land. Je weiter du von der Stadt weg bist, desto dunkler wird es, und mit den Scheinwerfern fängst du lauter tote Sachen ein. Andauernd überfährst du Leichen – Igel, Kaninchen, Füchse und Viecher, die schon von so vielen Wagen plattgefahren worden sind, dass du nicht mehr erkennen kannst, was sie mal waren. Hat es Federn, war es ein Vogel, hat es keine, kannst du bloß raten.
Du wirst aus stieren, grünen Augen angeglotzt.
Alles auf dem Land ist entweder gefährlich oder tot. Menschen sind vielleicht tatsächlich nicht viel besser als Tiere, aber wenigstens lassen sie andere Menschen nicht tot auf der Straße rumliegen. Sie bringen sie weg, damit sie nicht wieder und wieder überfahren werden. Du musst dir bloß mal vorstellen, wie es in London aussehen würde, wenn einfach alles, was unter die Räder kommt, liegen gelassen würde.
Und dann das Essen.
Fünfzig Kilometer hinter Frome hielt ich an einer Imbissstube. Sie wollten gerade zumachen, als ich ankam, und es waren bloß noch ein paar Reibeplätzchen übrig. Reibeplätzchen! Ich muss schon sagen. Auf dem Land kann ich es ehrlich nicht aushalten.
Einmal haben sie versucht, mich aufs Land zu verpflanzen. Ich war sieben Jahre alt, und es war irgend so ein Pflegschaftsdeal. Ich sollte von einem komischen Ehepaar in Pflege genommen werden, das in Cambridgeshire ein großes Haus hatte, wo sie sich Ponys und Hunde und ungefähr noch fünf andere Kinder hielten. Es war einer von den Deals, bei denen alle Sozialarbeiterinnen glasige Augen und feuchte Höschen bekommen.
»Was meinst du, wie es dir da gefallen wird, Eva«, haben sie gewiehert. »Viel Platz zum Toben. Und lauter grünes Gras und Bäume.«
Meiner Meinung nach haben diese Sozialklempner nicht die leiseste Ahnung von Stadtkindern. Wir mussten um neun ins Bett. Wir hatten nichts zu tun. Die Ponys waren hinterlistige Biester. Die Hunde haben gefurzt und hatten Flöhe und haben das schöne grüne Gras vollgeschissen. Und was das komische Ehepaar angeht, die beiden waren Religionsfreaks, die haben erwartet, dass sich alle Kinder miteinander vertragen sollten.
Wie kommen die Leute bloß darauf, dass du mit jemandem gut auskommen musst, bloß, weil er genauso alt ist? Kinder, die in Pflege gegeben werden, kommen schließlich von überall her. Sie sind durcheinander. Ganz egal, aus was für einer Familie du kommst, dein Zuhause vermisst du immer. Manche Kinder wollen dich einmachen, manche Kinder klauen, manche Kinder machen ins Bett, manche Kinder spielen mit Feuer, manche Kinder können nicht sprechen. Und so was soll nun prima miteinander auskommen und dankbar sein für das Gras und die tückischen Ponys.
Die Natur soll dir ja angeblich guttun. Aber das stimmt nicht. Die Natur beißt und sticht oder vergiftet dich, einfach nur so. Und außerdem gibt es auf dem Trafalgar Square mehr Vögel, als ich je auf dem Land zu sehen gekriegt habe – die toten auf den Straßen mitgerechnet.
Nein. London ist der einzige Ort, wo es zum Aushalten ist. Lass dir bloß nichts anderes erzählen.
In London kommst du immer durch: Irgendwie kannst du da immer ein paar Kröten machen – und ein Plätzchen