Katzenschwund. Reinhard Kessler

Katzenschwund - Reinhard Kessler


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konnte es natürlich auch nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass man wohl bei Unterfrankierung nachzahlen müsse, allerdings bei Überfrankierung niemals Geld zurück bekäme. Da müsste die Post noch dran arbeiten.

      Sein Gerechtigkeitsempfinden war eben hoch entwickelt.

      Daraus entstanden manchmal interessante Gespräche derart, dass man bei zu schnellem Fahren mit dem Auto wohl eine Busse von 100 Franken zahlen darf, er aber noch niemals erlebt hat, dass man bei entsprechender langsamerer Fahrweise mal als Belohnung 100 Franken zurück bekäme.

      Er führte das auf eine latent vorhandene landesübliche Geldgier zurück.

      War der Fragende aber ein etwas dünkelhafter Schweizer, dann lautete seine Antwort etwa so: “Ach, mir gefällt es gut. Wir haben schon so viel erreicht seit ich als Entwicklungshelfer hergekommen bin. Mich stört halt nur, dass die Kinder hinter dem Auto herrennen und um Süssigkeiten betteln, wenn ich durch ein Dorf fahre.“

      Das stimmte zwar nicht, aber die Antwort erfüllte ihren Zweck. Er wurde spätestens ab dann von diesen Menschen nicht mehr belästigt.

      Sein Verhältnis zur Schweiz war zusammengefasst insgesamt positiv mit geringen Abstrichen. Er hätte also eigentlich auch Schweizer sein können, war er ja auch irgendwie, so doppelbürgermässig jedenfalls.

      In Schulnoten ausgedrückt war sein Befinden so bei 2-, wobei 2- eine deutsche 2- war, in schweizer Schulnoten ausgedrückt wäre das eine -5 (ausgesprochen “bis fünf”). Diese umgekehrte Zählweise bei den Schulnoten nannte er umgekehrte polnische Notation**, was natürlich nicht korrekt war. Aber das kannte er von seinem alten Taschenrechner, also von seinem sehr alten Taschenrechner, also eigentlich noch älter, kurz nach dem Abakus.

      Auf jeden Fall führte dieses Benotungssystem dazu, dass seine deutschen Besucher permanent Schüler in ihrem Leistungsvermögen falsch einschätzten.

      Da konnte es dann schon mal passieren, dass sie seinem Sohn für schlechte Leistungen kleine Belohnungen zukommen liessen und ihn ausgiebig lobten.

      Der hielt natürlich den Mund und brachte die Beute schnell in sein Zimmer in Sicherheit.

      Die Tochter mit den sehr guten Noten erhielt dagegen den dringenden Rat, sich mal auf den Hosenboden zu setzen und zu lernen. ‘Es soll ja mal was aus dir werden, Mädchen‘.

      Wenn der Besuch dann weg war, sorgte der Vater aber wieder für Gerechtigkeit, er hatte ja wie gesagt ein hohes Gerechtigkeitsempfinden.

      Das war aber oft genug nur noch teilweise möglich, denn der Sohn hatte seine Belohnung in weiser Voraussicht meistens schon aufgegessen.

      Das zog dann jeweils die Rache der Tochter nach sich und der Familienfriede war extrem gefährdet.

      Die Tochter hatte sowieso einen geheimen Groll gegen den jüngeren Bruder. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso ihr Buder vor ihr im Jahr Geburtstag hatte, obwohl er doch nach ihr geboren war. Das empfand sie als hochgradig ungerecht. Sie als Ältere müsste ja wohl gefälligst als erste im Jahr mit den Geschenken an die Reihe kommen.

      Das hatte sich erst im schulpflichtigen Alter langsam gelegt, war aber im Unterbewussten latent immer auch im Erwachsenenalter noch als Teil ihrer bitteren Kindheit vorhanden. Solchermassen misshandelte Kinder verzeihen zwar, aber vergessen nie. Dafür sorgt schon die Tatsache, das diese Geschichte bei jedem Familientreffen wieder aufgewärmt wird.

      Inzwischen kannten ihn alle Nachbarn und er auch sie. Dass sie beim Grüssen immer den Namen mit erwähnten (‘Grüezzi, Herr Jelato‘), war ihm am Anfang peinlich, da er ihre Namen noch nicht so aus seinem Speicher abrufen konnte. Aber jetzt funktionierte das, die Namen waren im Langzeitgedächtnis abgelegt und wären eventuell sogar in hohem Alter noch präsent. Man wird sehen.

      Er und seine Frau waren ruhige Mitbewohner, besonders seit die Kinder aus dem Haus waren. Dass ab und zu ein Polizeiauto vor der Tür stand, war für alle gewöhnungsbedürftig.

      Am Anfang fragten sie sich, was wohl Schlimmes passiert wäre und der Abfallsack Giovanni kam ihnen wieder in den Sinn.

      Später dachten sie vor allem an den Langhaarigen im dritten Stock. Dem trauten sie einiges zu. Jemand meinte, dass wäre bestimmt der neue Wirt vom Fixerstübchen. Und seine Freundin hatte eine Tätowierung, man stelle sich vor!

      Da sie in der Zeitung von verschwundenen Katzen im Oberbaselbiet gelesen hatten und sie natürlich keine Vorurteile hatten, nannten sie ihn heimlich Katzenesser**. Aber auch Menschenhandel oder mindestens Drogenschmuggel oder Ähnliches schien ihnen sehr wahrscheinlich.

      Sie hatten auch scharfsinnigerweise bemerkt, dass dort im dritten Stock nur geduscht wurde, wenn jemand gerade im vierten Stock auch duschte.

      Als sie den Langhaarigen mal ganz vorsichtig darauf ansprachen, meinte dieser, dass er dadurch Strom spart. Schliesslich sei dann die Warmwasserleitung aus dem Keller bis zu ihm in den dritten Stock schon mit warmem Wasser gefüllt und er könne so helfen, Energie und Geld zu sparen. Ausserdem sei der sparsame Umgang mit Energie ein edles Ziel und würde gefördert.

      Sie waren überrascht, dass ein potenzieller Drogenschmuggler zu solchen Gedanken fähig war.

      Er war aber noch zu ganz anderen Dingen fähig.

      So erzählte er seinen verdutzten Nachbarn nach und nach weitere Merkwürdigkeiten. Wenn er beispielsweise unerwünschte Werbung mit leerem, aber frankiertem Rückantwortkuvert erhielt, so füllte er dieses Kuvert randvoll mit Altpapier und schickte es zurück an den Absender. Später ergänzte er dann mal, dass er das auch mit unfrankierten Kuverts macht. Dann zahlt halt der Empfänger Strafporto – und zwar ordentlich.

      Das war seine persönliche Rache wegen der Belästigung durch unbestellte Werbung. Er stellte sich die Szene vor, wie der Brief mit dem Altpapier von einer fassungslosen Sekretärin in irgendeinem Büro geöffnet würde und welchen Gesprächsstoff das dann lieferte. Da müsste also auch dem letzten Mohikaner klar werden, dass der angestrebte Werbeeffekt definitiv nicht erreicht worden ist und der Adressat der Werbung sich womöglich belästigt gefühlt hat.

      Der Langhaarige war so gesehen ein auf Ausgleich bedachter, gerechter Mann. Für ihn war das eine Frage der Ehre: beschenkte man ihn mit Müll, so revanchierte er sich mit einem grösseren Gegengeschenk. Er hatte diesem Ritual auch einen Namen gegeben: Müll-Potlach. Da bei diesem indianischen Brauch der Ruf des Schenkenden mit der Grösse des Geschenkes wächst, bildete er sich wohl ein, bald einmal als spiritueller Häuptling anerkannt zu werden.

      Die Nachbarn hatten dann aber mit der Zeit doch gemerkt, dass nur der Kommissar gelegentlich mit dem Polizeiauto abgeholt wurde, nicht aber der Langhaarige. Ein Kollege hatte den gleichen Weg zur Dienststelle und wenn der Einsatzplan es zuliess, fuhr man eben zusammen.

      An seine wechselnden Arbeitszeiten hatte man sich inzwischen auch gewöhnt. Heute musste er um neun Uhr los und hatte am Nachmittag bereits einen neuen Fall.

      Sie mussten ins Biberland zu den Talweihern, irgendwo in der Pampas, im Wald im Oberbaselbiet, wo auch immer das ist.

      Es gab einen Leichenfund mit ungeklärtem Hintergrund. Mord, Selbstmord, Unfall, natürliche Todesursache? Das musste geklärt werden und sie waren gefordert. Sie, das waren er und sein Assistent.

       Leichenfundort Talweiher

      Am Fundort der Leiche angekommen hatte die Polizei die Zufahrt bereits mit dem aus dem Fernsehen bekannten rot-weissen Plastikband abgesperrt. Für sie wurde es angehoben und sie konnten durch.

      Sie stiegen aus, er nickte begrüssungsmässig zu den Polizisten, einige kannte er recht gut, er orientierte sich kurz und ging dann zielstrebig auf einen Mann zu, der tief gebeugt am Wasser stand und etwas untersuchte.

      “Hallo, Karli.“

      “Hallo, Jelato.“

      “Und, wie lange?“

      “Was,


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