»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland. Werner Rosenzweig
dem großen deutschen Führer, der Deutschland nach den Wirren und der Schande des Ersten Weltkrieges wieder zu einer großen, aufstrebenden Nation formte. Er war es, der den Deutschen wieder Arbeit gab, der die ersten Autobahnen bauen ließ. »Deutschland gehört den Deutschen, und nicht den Ausländern«. Wie recht er hatte. Oma Anna erzählte ihm, wie sie während der Bombennächte in den Luftschutzbunkern in Dresden saß, als die Engländer und die feigen Amerikaner ihre wunderschöne Heimatstadt mit einem wahren Bombenteppich belegten. Die Amerikaner, die konnte er sowieso noch nie leiden. Warum hatten die sich überhaupt in den Krieg gegen Deutschland eingemischt? Alle gegen einen. Schon damals spielten sie Weltpolizist, genau wie heute. Oma Anna erzählte ihm von den ruhmreichen Schlachten der deutschen Landser, wie sie Frankreich überrannten, wie tapfer Rommel sich in Nordafrika schlug und wie die deutschen U-Boote die feindlichen Geleitzüge im Atlantik aufspürten und vernichteten. Seine Oma konnte wirklich spannend erzählen, auch von Johann, ihrem Ehemann, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs am Bahnhof von Bologna von einem Tieffliegerangriff der Amerikaner überrascht wurde und im Feld blieb. Sein Opa, den er nie kennengelernt hatte. Er hasste die Amerikaner umso mehr dafür. Die USA waren für ihn der westliche Teufel schlechthin, genauso wie ihr Ableger, diese BRD. Als am 13. August 1961 in Berlin die Mauer errichtet wurde, war er elf Jahre alt. Endlich wusste sich die Deutsche Demokratische Republik vor der Infiltration des Westens zu schützen. In der Schule las er die Werke von Marx und Lenin. Besonders Karl Marx hatte es ihm angetan. Wie hatte er in Die Deutsche Ideologie geschrieben? »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein«, und »Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden«. Er hatte sich fest vorgenommen, eines Tages auch zu den Herrschenden zu gehören, zur Elite. Mit zwanzig Jahren meldete er sich freiwillig zum Dienst der Deutschen Grenzpolizei, welche damals dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war. Er war ein guter Polizist. Unter seiner Leitung stellten sie in Thüringen drei Gruppen von Republikflüchtigen. Einen von ihnen, der nicht stehen blieb, sich den klaren Befehlen widersetzte und glaubte, den Grenzzaun noch überwinden zu können, stoppte er durch einen gezielten Schuss in den Rücken. Er wurde belobigt. Selbst schuld. Der Republikflüchtling könnte heute noch leben, wenn er auf die Aufforderungen zum Stehenbleiben gehört hätte. Hans-Peter Wallner wurde für seine Aufmerksamkeit und die hervorragenden Dienste im Interesse der DDR ausgezeichnet und in das Ministerium für Staatssicherheit berufen. Zu seinen neuen Aufgaben gehörte nun, an der Zersetzung von politisch Oppositionellen und Regimekritikern mitzuwirken, um politische Straftaten zu unterbinden. Er war auf dem richtigen Weg. Er genoss die neue Macht, die er über andere hatte. In dieser Zeit vertiefte er den Hass gegen die Feinde der DDR.
Nun hatten die westdeutschen Kapitalisten doch noch gesiegt. Am 17. November 1989 wurde das Ministerium für Staatssicherheit in »Amt für Nationale Sicherheit« umbenannt. Kurz darauf, am 4. Dezember, besetzten politisch Verblendete die Bezirksstelle Erfurt, und dann, am 15. Januar 1990, die Zentrale in Berlin. Sie hielten Bürgerwachen und gründeten Bürgerkomitees. Die Wende war nicht mehr aufzuhalten, Hans-Peter Wallner hatte gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt.
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Erst im Frühjahr 1991 tauchte der neue Thomas Keller bei der Meldebehörde Köpenick auf und legte seine Papiere vor: Pass der DDR und Geburtsurkunde. Er berichtete von seiner Verhaftung, seiner Gefängniszeit in Bautzen II, seinen dauerhaft gesundheitlichen Leiden, welche er sich in dieser Zeit zuzog und von den unmenschlichen Bedingungen im Allgemeinen. Der zuständige Beamte war von seinen Erzählungen gebannt und erschüttert zugleich. Dass sein Gegenüber mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt braune Kontaktlinsen, trug fiel ihm gar nicht auf. Dass er vor wenigen Wochen eine leichte Nasenkorrektur hatte vornehmen lassen, konnte er sowieso nicht ahnen. Er stellte einen vorläufigen Reisepass der Bundesrepublik Deutschland aus und versprach dem Mann, dass das endgültige Dokument in etwa zwei Wochen abgeholt werden könne. Der neue Thomas Keller bedankte sich für die professionelle und unbürokratische Bearbeitung seiner Angelegenheiten. Drei Monate später bot ihm – aufgrund seiner Bewerbungsunterlagen – ein großer deutscher Elektrokonzern in Berlin, in der Elsenstraße, einen Job an. In dem Haus in Berlin-Köpenick, welches er widerrechtlich übernommen hatte, hatte er den dokumentierten, beruflichen Werdegang seines Opfers gefunden, welches nun unter einem riesigen Ameisenhaufens verscharrt für ewig ruhte. Die lückenlosen Nachweise, wie Schul- und Uniabschlüsse, Geburtsurkunde und Familienstammbuch wuschen seine Vergangenheit um eine weitere Stufe rein. Seine Gesinnung hatte sich indessen nicht geändert: Er mochte das System des konsumorientierten Westens nicht und glorifizierte in seinen Gedanken immer noch die alten DDR-Zeiten. Er hegte einen manischen Hass gegen all die in den Osten Deutschlands drängenden Ausländer, welche gegen eine lausige Bezahlung den Einheimischen die raren Arbeitsplätze wegschnappten oder dem deutschen Staat faul auf der Tasche lagen. Da standen sie im Görlitzer Park, einzeln oder in kleinen Gruppen, die arbeitsscheuen Türken und Neger, und dealten mit Rauschgift. Deutschland brauchte sie nicht, diese Drecksschweine. Am meisten hasste er Türken, Bosnier und Schwarzafrikaner. Die gehörten weg, raus aus Deutschland. Am besten ganz weg. Sie schadeten seiner Heimat, in der er groß geworden war. Er war schon immer ein Anhänger der Politik von ganz früher, als Deutschland auf dem Weg war, eine der ganz großen Nationen dieser Welt zu werden. Oma Anna hatte ihm ja alles erzählt. Seinerzeit waren es die Juden, die Deutschland wirtschaftlich bedrohten. Das sollte man doch heute auch noch wissen? Dann, in den 60er Jahren, holte sich die BRD unverständlicherweise die vielen Türken ins Land, welche heute in der zweiten und dritten Generation immer noch hier waren. Damals war ihm das egal. Er verstand es nur nicht. Wozu? Sie lassen sich nicht integrieren, leben immer noch sippenhaft unter ihresgleichen und kennen ihre sozialen Rechte besser als jeder deutsche Arbeiter. Auch die aktuellen Berichterstattungen in den Medien kotzten ihn an. Da kamen sie, die Bimbos aus Libyen, Syrien, Tunesien, Ghana und sonstigen Ländern, in abgetakelten Booten übers Mittelmeer, setzten ihr Leben aufs Spiel und meinten, in Westeuropa fänden sie das Schlaraffenland. Sollen sie doch bleiben, wo sie herkamen, diese Kameltreiber. Wie die schon aussehen. Zum Fürchten. Was wollen die eigentlich hier? Leben in Saus und Braus! Schade, dass bei der Überfahrt nicht mehr von ihnen draufgehen. Schade, dass viele von ihnen Lampedusa immer noch erreichen. Zu viele. Und diese inkompetenten EU-Politiker im europäischen Parlament, diese hirnverbrannten, überbezahlten Politikheinis, was geben die von sich? Deutschland sei ein prädestiniertes Einwanderungsland! Bockmist! Bullshit! Die haben doch keine Ahnung. Außer blödsinnige Richtlinien zu erlassen, haben die eh nichts im Hirn. Die regeln selbst die Ausnahmen von den Ausnahmen. Es wurde Zeit endlich zu Handeln. Taten statt Worte. Genau wie Hitler sagte.
Thomas Keller suchte Kontakte zu seinesgleichen – die genau dachten wie er. Es gab da Gott sei Dank noch ein paar wenige Aufrichtige, welche ebenfalls zeitweise abgetaucht waren und die Welt mit den gleichen Augen sahen wie er. Auch ihnen tat es innerlich weh, zusehen zu müssen, wie ihre politische Weltanschauung immer mehr in die Bedeutungslosigkeit abglitt. Dass diese unfähigen West-Politiker im Dezember 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft gesetzt und die Öffnung der Akten ihres ehemaligen Staatssicherheitsdienstes erlaubt hatten, war ihnen schon gegen den Strich gegangen. Mussten sie sich vielleicht eines Tages auch noch wegen ihrer vaterlandstreuen Arbeit rechtfertigen? Sie beschlossen, endlich aktiv zu werden. Gemeinsam kamen sie überein, dem Asylgebaren dieses verhassten kapitalistischen Systems nicht mehr länger untätig zuzusehen. Sie wollten ihre alte Weltordnung wiederherstellen, ohne schmarotzende Ausländer. Deutschland brauchte wieder eine strenge Hand, wie sie bis Mitte der vierziger Jahre gelebt wurde. Wenn es nicht anders ging, dann eben mit Gewalt. So gründeten sie, nachdem der NSU aufgeflogen war, im Juni 2012 die Nationale Extreme Leipzig, die NEL. Die Satzung kannten nur die zwölf Gründungsmitglieder. Äußerste Vorsicht war angesagt, das war ihnen klar. Gerade jetzt, nachdem die heroischen Taten des NSU immer mehr in die politischen Diskussionen gerieten und der Prozess um Beate Zschäpe unverständlich hohe Wellen schlug. Sie nahmen sich vor, nur im Geheimen zu operieren. Nur im Stillen, ohne aufzufallen. Keine Kontakte zu anderen rechtsextremen Organisationen. Abstand zur NPD. Keine Öffentlichkeitsarbeit. Eigentlich gab es die NEL gar nicht, und doch gelobten sie sich, dass jeder von ihnen eine neue Terror-Zelle ins Leben rufen und führen würde. Unabhängig voneinander wollten sie operieren. Besser die Mitglieder der Zellen kannten sich untereinander gar nicht. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß! Für ihr Vorhaben brauchten die Zwölf Geld und die richtigen Leute. Keine schwarz gekleideten Glatzköpfe mit Springerstiefeln und Bomberjacke,