Senioren im Netz: Spiel und Spiegel. Edith Zeile
eilen andere herbei, um die Hetzjagd effizienter zu machen.
Das Dilemma ergibt sich daraus, dass die eine Gruppe Waffen einsetzt und die andere eigentlich darauf verzichten möchte, weil es ihrer Vorstellung vom Umgang miteinander nicht entspricht.
So ist von allem Anfang an die Ungleichheit der eingesetzten Mittel vorhanden.
Eine der farbigsten, interessantesten Persönlichkeiten hat vor Kurzem wortlos Seniorbook verlassen. Ein großer Kreis hat das bedauert, andere haben ihren Triumph gefeiert. Es war ein Pfarrer.
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William Somerset Maugham, dessen Hauptwerk Of Human Bondage (Von menschlicher Sklaverei) ich vor Jahren mit großem Interesse gelesen habe, sagt darin, der Mensch sei „a hotchpotch of greatness and littleness“ – eine kuriose Mischung aus Größe und Trivialität.
Damals fand ich das recht originell. Heute – nach meinen Erfahrungen bei Seniorbook – sehe ich darin eher einen Euphemismus, eine literarische Beschönigung der Tatsache, dass Menschen häufig genug auf die Stufe von Un-Menschen herabsinken können.
Hier muss man sich wegen seiner individuellen Einzigartigkeit verteidigen. Hier muss man mit dem Platzhirsch übereinstimmen, wenn man nicht auf die Hörner genommen werden will. Eine Frau darf natürlich ihre körperlichen Reize zur Schau stellen, aber eine eigene Meinung sollte sie nicht vertreten.
Auch am Schwarzen Brett finden täglich Massaker statt, und wenn man sich verspätet einklinkt, haben schon Löschorgien stattgefunden.
‘Dreiecken’ ist nicht etwa eine neue Rechenart, sondern entweder ein böses Verleumdungsmodell oder ein Rettungsring für die andere Seite.
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Vielleicht ist Seniorbook eine Art Online-Gefängnis, wo alle eine Strafe verbüßen müssen. Man trifft sich dauernd, kettet sich aneinander, ist frustriert, dass man von dem oder jenem nicht das bekommt, was man will, was immer das auch sein könnte, und am Ende möchte man nur weg – kann aber nicht, weil man gefangen, d.h. süchtig ist.
Schade, dass die gleißende Barriere den Online-Gefangenen nicht erlaubt, sich einmal in die Augen zu schauen und sich die Hand zu geben. Sich zu versöhnen. Sich als ganzen Menschen zu erleben.
Seniorbook – aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters
Ein soziales Netzwerk ist das, was es ausdrückt: ein Netz für soziale Zwecke.
Wer sich einfangen lässt, ist selber schuld, bzw. braucht es, um in einer größeren Gemeinschaft sein Wesen als Einzelgänger besser kennenzulernen.
Ein Netzwerk ist wie ein Spiegelsaal, z.B. in Versailles, wo sich der Einzelne in Spiegeln von allen Seiten sehen kann, manchmal verzerrt, manchmal extrem klar, manchmal absolut mangelhaft.
All das führt zu einer Selbstentdeckung, die im normalen gemächlichen Leben mit einer vom Einzelgänger ausgesuchten Gesellschaft nicht möglich ist.
Die neue Sucht, Selfies zu machen, ergibt sich natürlich daraus. Man möchte wissen, wer man ist und wie man bei anderen ankommt. Selbstzweifel ist eine der Hauptursachen, warum jemand in ein solches Netzwerk einsteigt.
Manchmal auch eine übersteigerte Selbstliebe, denn man kommt, stellt sich vor, diskutiert, zeigt sich von seiner besten Seite, auch Rückseite :-) und bittet um Anerkennung.
Im Mittelpunkt stehst du, du und sonst niemand.
Das Spiel ist überall dasselbe. Wir kennen uns nicht, wir möchten mehr über uns wissen, wir möchten geliebt werden, wir möchten uns selber erkennen, wir möchten von andern erkannt werden – ein Spiel, das täglich aufs neue mit immer neuen Varianten gespielt wird.
Mitunter verhaken sich zwei oder mehr und es kommt zu einem Gerangel. Eine Hydra erscheint, man hackt ihr den Kopf ab, und es erscheinen neue Köpfe. Ihr nennt das Troll oder Fake oder verlasst den Spielplatz empört, dass jemand sich anmaßt, euch zu verspotten, eure unschönen Seiten zu sehen.
Man will – wie früher bei Mama (und Papa) – verhätschelt werden, später ernst genommen werden, man will jemand sein, den es sonst nirgends mehr gibt. Welches Alleinstellungsmerkmal hat man? Hat Ilse oder Peter oder Marianne?
Geht es um andere Werte? Ja und nein. Es gibt auch ein paar seriöse Stellungnahmen, ein paar politische Analysen, ein paar flehende Appelle um etwas mehr Menschlichkeit etc. Die ganze Palette menschlicher Eigenschaften, der ganze Gefühlshaushalt wird bedient.
Man bleibt im Spielfeld. Das ist die Hauptsache. Denn man sitzt oft im Abseits im realen Leben. Auf der Ersatzbank oder einem Abstellgleis. Vielleicht in der Sozialstation eines Bahnhofs. Man weiß gar nicht, wohin man im Leben fahren sollte. Man erwartet vielleicht eine Hinfahrkarte zu einem lohnenden Ziel. Einige warten darauf, aber niemand verschenkt solche Karten. Man muss sie sich schon selber kaufen. Alles hat seinen Preis. Es gibt Hinweise, es gibt Ratschläge, Ermahnungen, Drohungen, Appelle an den normalen Menschenverstand – aber sich entscheiden muss jeder selber.
Das ist also neben der Selbstbespiegelung ein weiterer Zweck sozialer Netzwerke: Erweiterung des Bildungshorizontes.
Ein Nebeneffekt ist im Beziehungsgeflecht zu suchen. Man nennt das hier sehr vorsichtig ‘Kontakte’. Ein Kontakt ist übersetzt: eine gemeinsame Berührung.
Man berührt sich also, indem man ein Foto betrachtet oder einen Satz auf der Zunge zergehen lässt oder sich einfach ein Herz schicken lässt. Man berührt sich.
Nun, es ist eine Tatsache, dass Berührungen heilen können. Viel zu wenig Berührung gebe es zur Zeit bei den Menschen, wissen wissenschaftliche Analysen.
Also berührt man sich hier auch auf virtuelle Weise.
Es mag sein, dass dies auch zu einer engeren Form von Kontaktaufnahme führt. Warum auch nicht. ..
Der Modus der Vervielfältigung der Möglichkeiten erlaubt natürlich auch eine höhere Findungsrate eines Partners. Alle Gefahren mit eingeschlossen :-)
Am Ende erscheint mir Seniorbook wie ein Kreuzworträtsel in moderner Form. Jeder Buchstabe ein Mensch, der sich an seinem Platz mit anderen Buchstaben verbindet und einen Sinnzusammenhang herstellt. Warum sollten nicht im Zeitalter der Kommunikation solche unterhaltsamen Spiele erfunden und gespielt werden?
Solange Fairness zu einem zentralen Wert macht, ist nichts dagegen einzuwenden, im Gegenteil. In jedem Spiel lernt man etwas, und schließlich ist Leben durchaus immer mit Lernen verknüpft. (KH)
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