Raue Februarwinde über den Elbmarschen. Manfred Eisner
bettelt Nili.
»Also gut.« Lissy räuspert sich. »Eines Tages kommt der Josele zum Rabbi. Fragt der Rabbi: ›Nu, Josele, was hast du?‹ Der antwortet: ›Rebbe, ich versteh die Welt nicht mehr!‹ Fragt der Rabbi: ›Wieso? Was ist passiert?‹ – ›Nun ja‹, antwortet Josele, ›der Moischele und ich sind gewesen wie Brüder. Wir kennen uns seit der ersten Kindeszeit. Wir waren zusammen im Kindergarten, dann in der Schule. Wir haben geheiratet zusammen ein Zwillingspaar, hatten eine gemeinsame Hochzeit. Alles war wunderbar bis letzte Woche, da hat der Moischele plötzlich gewonnen im Lotto, sechs Richtige mit Zusatzzahl. Hat gemacht zweieinhalb Millionen. Und jetzt plötzlich tut er so, als ob er mich nicht kennt. Ich bin für ihn ein Fremder, hat er mir gesagt. Rebbe, ich versteh die Welt nicht mehr!‹ – ›Mm…‹, überlegt der Rabbi und streichelt seinen langen weißen Bart. Dann sagt er: ›Josele, geh zum Fenster und schau hinaus. Was siehst du?‹ Josele blickt hinaus und sagt: ›Nun ja, Rebbe, was man soeben auf der Straße sieht: die Leute, die Autos, die Bäume.‹ – ›So, Josele, und jetzt geh hinüber zum Spiegel und sag mir, was du siehst.‹ Josele folgt dem Rabbi und antwortet: ›Nu, was schon soll ich sehen? Mich selbst!‹ Sagt der Rabbi: ›Ja, mein lieber Josele, das Leben ist eben wie eine Glasscheibe. Normalerweise kann man durch sie hindurch alles sehr gut sehen. Aber kaum kommt ein bisserle Silber dazwischen, sieht man nur noch sich selbst!‹«
»Wie wahr, Ima!« Nili erhebt sich, denn es hat soeben an der Haustür geklingelt. Sie geht, um zu öffnen. Die bekannte Silhouette, die sich auf der matten Fensterscheibe abzeichnet, beschleunigt ihren Herzschlag vor Freude und sie zieht schwungvoll die Tür auf. »Waldi, Liebster, was für eine schöne Überraschung!«
Beide geben sich einen sehr langen Kuss.
»Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet! Komm erst mal rein, dein Gesicht fühlt sich eisig an, du bist ja halb erfroren!«
»Ja, bei den vereisten Straßen habe ich es vorgezogen, mit der Bahn zu fahren. Und am Bahnhof stand natürlich mal wieder kein Taxi bereit, da bin ich eben zu Fuß hergelaufen.«
»Du Armer! Hättest du mich angerufen, dann wäre ich hingefahren, um dich abzuholen! Komm, gehen wir ins Wohnzimmer, damit du dich am Kamin etwas aufwärmen kannst!« Sie schließt die Tür und geht vor. »Abuelita, Ima, seht mal her, Überraschung!«
Sehr herzlich begrüßen die beiden Frauen den Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr vom Kieler LKA, wohl in seiner dreifachen Funktion als Nilis Vorgesetzter, Kollege und – wie man heute zu sagen pflegt – der Mann an ihrer Seite.
»Ich bitte höflichst, diesen unangemeldeten Überfall zu entschuldigen, meine Damen!« Er begrüßt Clarissa und Lissy in seiner gewohnt freundlichen Art. »Es ist ja so, dass Nili für die nächsten paar Tage nicht in Kiel sein wird, und ehrlich gesagt sind mir diese ohne sie viel zu lang und öde.« Nun lächelt er Nili an. »Wir sind doch sowohl im Job als auch privat ein eingespieltes Team, nicht wahr, mein Schatz?«
»Aber, aber, Herr Mohr«, Lissy lacht, »dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen! Sie wissen ja, dass Sie in unserem Hause jederzeit gern gesehen sind! ›Mi casa es su casa‹, wie man in Südamerika sagt. Mein Haus ist Ihr Haus!«
»Ich danke Ihnen, sehr geehrte Frau Masal, das ist wirklich nett von Ihnen!«
»Ach, Leute, lasst doch bitte ein für alle Mal diese steifen norddeutschen Förmlichkeiten«, regt Nili an. »Waldi und ich sind schließlich ein Paar und ihr solltet euch endlich duzen!« Sie macht Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen. »Ich setze rasch Wasser auf. Dann gibt es einen schönen heißen Grog für uns alle, und es wird ›ornlich‹ auf Du und Du geprostet! Basta!«
»Nili hat gesprochen!«, kommentiert Oma Clarissa mit einem vergnügten Lächeln.
*
Diplomingenieur Wolfgang Schneider sitzt am Schreibtisch seines Arbeitszimmers, das in dem großen reetgedeckten Barghus am Störufer in der Nähe von Itzehoe untergebracht ist. Hier hat die Wind-Powermasters – Genossenschaft mit beschränkter Haftung – seit etwa fünf Jahren ihr Hauptquartier etabliert. Er überarbeitet den Lageplan des letzten Windparks, den das Unternehmen zurzeit in der Nähe der Kleinstadt Oldenmoor neu errichtet. Im letzten Jahr konnte man wegen der sehr spät einsetzenden Frostperiode bis in den Monat Dezember hinein Fundamentgruben für die Tragesäulen der Windkrafträder ausheben. Es war sogar gelungen, den ersten Mast aufzustellen, bis dann die strenge Kälte eine Unterbrechung der Arbeit verursachte. Der sechzigjährige schlanke und gut aussehende Mann mit den krausgelockten grauen Haaren blickt nachdenklich aus dem Fenster und sieht in der Ferne eine noch unvollständige Windanlage in den trüben winterlichen Himmel aufragen. Er zündet sich eine Zigarette an und betrachtet tief in Gedanken versunken den ausgeatmeten Rauch. Über dreißig Jahre ist es her, seit er erstmals mit der Windkraft in Berührung gekommen ist. Nach seinem Maschinenbaustudium an der Berliner TH hat er Ende der siebziger Jahre als junger Angestellter am Institut für Aerodynamik und Gasdynamik der Universität Stuttgart seine ersten Erfahrungen in diesem Fach mit der Einführung des GROWIAN-Prototyps auf dem Kaiser-Wilhelm-Koog gesammelt. Wenigstens einen Vorteil hatte das verunglückte Unternehmen für ihn, lernte er doch im benachbarten Friedrichskoog jene junge Frau kennen, die er dann auch später heiratete und die ihm drei Kinder schenkte. Heute lebt er mit Ehefrau Silke in einer Vierzimmerwohnung in der Stadt Wilster.
Schneider drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und widmet sich abermals seinem Lageplan. Dr. Jürgen Böckmann, Leiter des Rechnungswesens der Genossenschaft, hatte ihn telefonisch darüber informiert, dass der Erste Vorsitzende und Geschäftsführer, Alfred Rademacher – bei den Genossenschaftsmitgliedern wegen seines ungebremsten Aktionismus unter vorgehaltener Hand »Windiradi« genannt –, bei der letzten Versammlung festgestellt habe, dass inzwischen etwa fünfundzwanzig neue Mitglieder der Genossenschaft beigetreten seien und entsprechende Beiträge für ihre Geschäftsanteile zur Verfügung gestellt haben. Dies geböte, die neu zugeflossenen Gelder baldmöglichst zu investieren, weshalb er Schneider angewiesen habe, den Lageplan des jetzigen Windparks noch einmal auf die Möglichkeit zu überprüfen, mindestens fünf weitere Windkrafträder auf diesem Areal aufzustellen. »Die Kerle gehen mir langsam auf den Senkel«, murmelt er und seufzt. »Die können einfach den Hals nicht vollkriegen!« Man verspricht den Anlegern wahnwitzige Zinserträge auf ihre Genussscheine, die seines Erachtens niemals erwirtschaftet werden können. Aber die Gier treibt die Investoren und vernebelt ihren Verstand. »Und unsere gewissenlosen Herren des Vorstands nutzen dies schamlos aus, ohne Rücksicht auf Verluste!«
Wolfgang Schneider hatte »sein« GROWIAN-Projekt bis zum endgültigen Abriss der Anlage betreut und fand sich danach arbeitslos. Wider dessen technisches Scheitern war er durch die gemachten Erfahrungen von der Effizienz und Zuverlässigkeit von Windkraftanlagen überzeugter denn je. Er war sich sicher, dass die Euphorie der friedlichen Atomnutzung spätestens bei der Suche nach einer geeigneten Endlagerungsstätte für die abgenutzten Brennelemente irgendwann ein jähes Ende finden würde und man sich schon deshalb der Schaffung alternativer Energiequellen zuwenden werde. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war doch die gesamte Landesfläche Schleswig-Holsteins mit Windmühlen aller Arten für vielseitige Verwendungszwecke überzogen. Nicht nur für das Mahlen von Getreidearten, zur Ölgewinnung, der Wasserschöpfung, Marschentwässerung und für andere Nutzungen setzte man damals seit uralten Zeiten erfolgreich auf die stets vorhandene Naturkraft. Diese wurde erst durch den Einsatz elektrisch betriebener Pumpen und Motoren ersetzbar. Und nun erhob sich gerade mit der Generierung dieser elektrischen Kraft erneut die akute Frage, die nach adäquaten Antworten verlangte. »Also back to the roots – zurück zu den Anfängen«, sagte sich der optimistische Ingenieur und suchte nach Gesinnungsgenossen, mit denen er gemeinsame Sache machen konnte. Die Anfänge gestalteten sich mehr als schwierig, waren doch damals die kühnen Unternehmen, die sich an die Herstellung von Windkrafträdern heranwagten, dünn gesät. Durch gezielte Anzeigen in Fachzeitschriften empfahl sich Schneider als sachkundiger Berater und gelangte nach und nach an zeitlich begrenzte Aufträge, indem er mit wechselnden Herstellern bei Planung und Aufstellung der Anlagen kooperierte. So war er ab 1989 für verschiedene Firmen tätig und an einigen der ersten im Lande aufgestellten Windkraftanlagen in Burg auf Fehmarn, Barnitz und Schürsdorf beteiligt. Als er danach in der Branche