Der Geburtstagskuchen, Heimweh, das verflixte Kleid. Helen Braasch
für die Wäsche und wartete und wartete.
Jetzt öffnete jemand die Hoftür, leider kein Spielgefährte, aber ich hörte durch den Hausflur und die angelehnte Tür zur Straße Musikklänge. Was war denn das? Wie der Blitz war ich draußen. Ein Militärmusikkorps zog durch unsere Straße. So etwas hatte ich noch nie gesehen und gehört. Es war nicht nur toll anzusehen; die Musik faszinierte mich. Wie dröhnten die Blasinstrumente, untermalt von den Trommeln. Ich folgte der Musik. Wie ein Sog zog sie mich hinterher. Sie drang nicht nur in mein Gehör ein; die rhythmischen Klänge filterten in meinen Körper, in mein Blut und legten meinen kleinen Verstand lahm. Erst hatte ich gedacht, bis zum Ende der Straße mitzugehen. Als das Korps aber am Ende der Straße in eine andere Straße einbog, setzte mein Kopf ganz aus, und ich wurde einfach mitgerissen. Und dann noch in eine andere Straße und in noch eine andere und in noch eine und so weiter.
Plötzlich aber wurde ich mir der Situation bewusst und hielt inne. Wo war ich denn eigentlich? Ich ließ sie ziehen und folgte ihnen nur noch mit Auge und Ohr. Schließlich entschwanden sie meinem Blick. Ich schaute mich verblüfft um und wusste überhaupt nicht mehr, wohin ich dem Korps gefolgt war. An das letzte Wegstück konnte ich mich noch erinnern; ich musste diese Straße einfach in umgekehrter Richtung gehen. Ich drehte mich um und stolperte. Was war denn das? Mitten auf dem Gehweg lag ein rotes Portemonnaie. So eine Überraschung! Für einen Moment war die Sorge um den Nachhauseweg vergessen. Ein Portemonnaie – das war etwas Wertvolles, das war mir klar. Bestimmt war Geld darin, und damit konnte man etwas kaufen. Ich nahm es auf, wagte aber nicht, es zu öffnen. Wer es wohl verloren hatte? Bestimmt suchte derjenige es schon. Aber niemand war zu sehen. Ich verharrte ein Weilchen. Niemand kam vorbei. Was sollte ich nur tun? Ich war zur Ehrlichkeit erzogen worden und konnte mich doch nicht einfach an fremdem Geld vergreifen. Ich war hilflos und unentschlossen. Dann kam mir die rettende Idee: Ich musste meine Mutter fragen. Mutti wusste immer einen Ausweg! Aber sie war nicht hier. Ohne sie würde ich das Portemonnaie nicht öffnen. Ich schaute mich um. Es war immer noch niemand zu sehen. Ich lief zu dem der Straße anliegenden Haus und legte das Portemonnaie auf den Sims eines Kellerfensters. Hier würde es bestimmt nicht so schnell auffallen. Dann konnte ich mit meiner Mutter noch einmal hierherkommen und das Portemonnaie öffnen und schauen, wie viel Geld darin war - oder es vielleicht sogar mitnehmen.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich noch immer keine Ahnung hatte, wie ich zurück nach Hause finden sollte. Ich lief bis zur nächsten Straßenkreuzung, doch dann war ich ratlos. Ich hatte nicht auf den Weg geachtet, sondern war nur fasziniert der Militärmusik gefolgt. Da stand ich nun vollkommen hilflos, und mir kamen die Tränen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sprach eine daherkommende Frau an. Ich erzählte ihr, was passiert war und dass ich nicht mehr den Weg nach Hause wusste. Von dem Portemonnaie erwähnte ich nichts. Die Frau fragte mich nach meiner Straße, und deren Namen kannte ich glücklicherweise. Nun war alles ziemlich einfach. Sie begleitete mich ein Stück. Ich muss mir den Weg merken, dachte ich immerfort, wegen des Portemonnaies. Schließlich gelangten wir in mir vertraute Straßen. Ich bedankte mich und rannte nach Hause.
Ich war so aufgeregt, dass ich mich wiederholt verhaspelte, als ich meiner Mutter von der Militärmusik und dem Portemonnaie erzählte. So ein Abenteuer! Meine Augen glühten vor Erregung. Meine Mutter aber war ganz verwundert und hatte geglaubt, ich spielte mit anderen Kindern auf dem Hof. Als sie verstanden hatte, dass ich mit ihr das Portemonnaie holen wollte, zog sie meinen Vater zurate. Ich konnte nur schlecht beschreiben, wo das Portemonnaie lag, aber ich war sicher, ich würde die Stelle wiederfinden. Meine Eltern meinten, es sei schon spät und dunkele schon. Weil ich aber so intensiv darauf beharrte, noch einmal dahin zu gehen, versprachen sie mir, wir würden am nächsten Morgen die Lokalität aufsuchen.
Ich stand zeitig auf und konnte es kaum erwarten loszugehen. Frühstücken wollte ich vorher nicht. Meine Mutter nahm mich bei der Hand, und wir gingen tatsächlich los, um das Portemonnaie zu finden und eventuell zu holen. Meine Mutter war skeptisch, aber ich hoffte, alles ginge gut. Ich fand auch den Weg, wusste jede Ecke, an der wir abbiegen mussten. Meine Mutter staunte darüber, dass ich so weit gelaufen war und mir dann auch noch den Weg eingeprägt hatte. Doch als wir an der Stelle ankamen, an der ich das Portemonnaie zurückgelassen hatte, war es verschwunden. Nichts lag mehr auf dem Sims des Kellerfensters. Ich war sprachlos. Hoffentlich glaubte man mir überhaupt, dass ich es dorthin gelegt hatte. Ich war ganz sicher, das richtige Kellerfenster gefunden zu haben. Was sollten wir tun? Wir liefen also wieder nach Hause. Meine Mutter verlor kein Wort des Bedauerns darüber, aber ermahnte mich ernsthaft, nicht wieder so weit wegzulaufen. Ich versprach es. Von dem Portemonnaie wurde keine Silbe mehr erwähnt. Es war zu schade, dass wir es nicht mehr gefunden hatten.
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