Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger
Seele. Nichts ist vergessen oder überwunden. Im Gegenteil, die Fragen nach dem Wer? Warum? Wieso? wurden sozusagen erwachsen, dringlicher, größer! Sie standen immer im Raum, waren nicht wegzudrücken, pochten auf Beantwortung.
Die abgedroschene Weisheit ‚Die Zeit heilt alle Wunden‘ ist reine Augenwischerei. Wunden können sich nur schließen, wenn sie gesäubert und in Ordnung gebracht werden, um dann in Ruhe verheilen zu können. Schrunden, die Heilung vortäuschen und dann doch immer wieder aufbrechen, sind keine Heilung. Ich werde mich ihnen stellen. Nur so kann Genesung und Frieden gelingen. Ich habe im Moment keine Ahnung, wie und wo ich anfangen soll. Aber es muss mir gelingen, Menschen zu finden, die mit mir über damals sprechen, die noch was wissen, damit ich mich nicht mehr wegducke, wenn ich an Sonja denke.
Ich merke, wie dieser Entschluss mir guttut. Schon jetzt spüre ich, dass Wärme in meinen Körper zurückkehrt. Ich habe plötzlich die absolute Gewissheit, dass das der einzig richtige Weg für mich ist. Das Ratta-tü, Ratta-ta, Ratta-ta, die Melodie des Zuges, kommt wieder bei mir an. Keine Spur mehr von der Dramatik, die ich beim Losfahren erkennen konnte. Als hätten die Räder meine Erleichterung übernommen, klingt es jetzt wie: „Mach es so! Mach es so! Mach es so! …“
Ich krieche hinter meinem Mantel hervor, rücke mich auf meinem Sitz zurecht, mache meinen Rücken gerade und nehme mein Abteil wieder wahr und die mit sich selbst beschäftigten Menschen darin. Sehe zum Fenster hinaus. Landschaft, Wiesen, Wälder, Häuser! Gab es das vorher schon? Ist mir nicht bewusst. Ich habe geschaut, aber nichts gesehen. Ein Hochgefühl ist in mir, das bei mir bleiben soll. Das möchte ich festhalten, es macht mich stark. Ich werde keine Zweifel mehr zulassen. Ja, genau das ist mein Weg, und den werde und muss ich gehen. Ich bin mir gewiss: So oder gar nicht!
Stuttgart, mein Ziel ist erreicht. In der ganzen Zeit, in vierundvierzig Jahren, war ich nur zweimal zu Hause gewesen. Ich hatte nicht können. Die Veränderungen, die es während dieser Zeit gegeben hatte, waren allgegenwärtig. Wie überall halt. Viel wusste ich schon aus den Berichten meiner Besucher, die regelmäßig nach Berlin kamen. Allen voran meine Eltern und meine Brüder Martin, Uwe und Tobias, für die es wunderbar war, eine Schwester in Berlin zu haben, die man besuchen konnte, so oft es nur ging. Mein Vater war in der Zwischenzeit verstorben. Vor drei Jahren, ziemlich plötzlich an einem Schlaganfall. Er war vierundachtzig Jahre alt geworden. Ein schwerer Schlag für uns alle, besonders aber für meine Mutter, die mit keinem Gedanken an so etwas gedacht hatte. Gut, dass Tobias und seine Familie da waren. So war Mutter umsorgt, nie alleine. Wenn die Einsamkeit über sie kam und sie erdrücken wollte, war jemand da. Dafür war ich dankbar. In diesem Jahr wird meine Mutter zweiundachtzig Jahre alt. Eine noch immer gesunde, lebhafte Frau, die die Geschehnisse um sich herum und draußen in der Welt mit großem Interesse täglich verfolgt. Berlin und bei mir war in jedem Jahr ein Höhepunkt in ihrem Leben.
Stuttgart – Endstation! Alle müssen aussteigen. Es wird lebendig um mich. Die Aufbruchstimmung, kaum dass der Zug zum Stehen kommt, ist bei meinen Mitreisenden in vollem Gange. Hastig wird Gepäck zusammengerafft. Alles schubst und schiebt auf den Bahnsteig. Mein Bruder Tobias müsste da sein. Er hat Order, mich abzuholen. Unser jüngster, er ist der vierte in unserer Geschwisterrunde. Im Herbst 1972 geboren, 13 Jahre jünger als ich. Bauer ist er geworden. Den Hof hat er übernommen, mitsamt den Eltern, so wie es sich auf dem Land für einen Hoferben gehört. Ein guter Landwirt ist der Tobias geworden. Auf der Landwirtschaftsschule in der nahen Kreisstadt versuchte er, so viel wie möglich zu lernen, denn es war ihm schon früh klar gewesen: „Das ist für mich. Ich muss so vieles wissen, wenn ich ein großes Anwesen versorgen soll.“
Ich bin voll freudiger Erwartung. Sehe meinen Bruder neben einer Bank stehen, hätte am liebsten geschrien: „Hier bin ich!“, aber das Gequake des Bahnhofslautsprechers und die laute, hastende Menschenmenge machen es mir unmöglich, mich von Weitem bemerkbar zu machen. „Bleib stehen, Tobi!“, bitte ich in Gedanken, „gleich bin ich bei dir.“ Er hat mich entdeckt. Ich sehe es an seinem breiten Lächeln, das mich voller Freude willkommen heißt. Als er vor mir steht, breitet Tobias die Arme aus und drückt mich fest an sich.
Wie ich diese Umarmung genieße! „Bleibst du jetzt da, Barb, für immer?“, nuschelt er an meinem Hals. Ich nicke, will ihn gar nicht mehr loslassen, genieße mit allen Sinnen das Gefühl des Beschütztwerdens. Tief atme ich den Geruch von Heimat ein, den Tobias verströmt. Ein Gemisch aus Heu, Milch und Kernseife. So riecht Nachhausekommen! Es ist der Geruch der Kindheit, vertraut und so lange nicht mehr geatmet.
Ich weine in den Kragen des Bruders, habe das verrückte Gefühl, dass ich so stehen bleiben möchte. Sie sollen bleiben, die starken Arme von Tobias, die mich an die tröstlich breite Brust drücken, genauso wie seine freundlichen Worte, die mich streicheln. „Könnte ich die Welt anhalten, dann würde ich es jetzt tun“, geht es mir durch den Kopf. Glasklar weiß ich in diesem Moment: „Ich möchte bleiben, egal was kommt! Hoffentlich kann ich bleiben.“ Tobias nimmt mir das Gepäck ab. Den roten Trolley und die schwarze, große Reisetasche. „Mir nach, Barb! Im Parkhaus steht der Wagen.“ Mit dem Gefühl großer Erleichterung gehe ich hinter Tobias her. Sich um nichts kümmern müssen, wann durfte ich das schon mal erleben?
Ein Geländewagen, groß und bockig, gehört Tobias. „Sowas braucht er sicher auf der Landwirtschaft“, geht es mir durch den Kopf, während ich einsteige. Es tut gut, neben Tobias zu sitzen, seine starken Hände am Lenkrad zu sehen und von der Ruhe zu zehren, die von ihm ausgeht.
Raus aus der Stadt! Ein Stück Autobahn, wo große Anzeigetafeln bekannte Orte ankündigen. Über Landstraßen, durch Dörfer, die ich kenne und dann taucht er auf, der Wegweiser nach Bergwiesen. Ich staune, wie vertraut mir doch alles noch ist, wie schnell ich mich wieder zu Hause fühle. Das Wäldchen dort gibt es noch, so groß halt, wie ein Wald in über vierzig Jahren heranwächst. Der Fluss, der die Bundesstraße viele Kilometer begleitet, die Brücken, die ich kenne. Ich staune über die neue Umgehungsstraße, die verbreitert wurde. Alles ist irgendwie neuer. Die Kirche, die Häuser, die Gärten und Höfe, aber alles steht noch an den vertrauten Plätzen, wo sie immer waren.
In Bergwiesen hat sich einiges verändert. Neues wurde erschaffen. Altes erhalten und erneuert. Das wunderschöne, im Jahre 1746 erbaute Amtsgebäude, von der Dorfgemeinde nur ‚das Schloss‘ genannt, wurde liebevoll renoviert und bildet zusammen mit der Kirche den prächtigen Mittelpunkt des Dorfes. Alles ist noch da. Tobias erzählt mir begeistert von der Entwicklung, den der Ort genommen hat. Gelöst und voller Freude nehme ich auf, was der Bruder zu berichten weiß.
Die Bushaltestelle – auch die gehört zum Mittelpunkt im Dorf. An der müssen wir automatisch vorbeifahren, wenn wir nach Hause wollen. Wir sind schlagartig still, wissen beide: Ab hier begann der letzte Weg von Sonja. Ich spüre wieder die Kälte in mir aufsteigen. „Jetzt nicht! Geh weg!“, befehle ich der Vergangenheit energisch. „Später machen wir das.“ Tobias schaut mir von der Seite ins Gesicht. Sieht meine aufgerissenen Augen, sieht meinen inneren Kampf. Er legt kurz die Hand auf meine verkrampften Hände im Schoß. „Ich weiß, Barb, aber wir werden dir helfen. Du wirst schon sehen, glaub mir.“
Es kommt mir weit vor, dieses Wegstück vom Dorf hoch auf den Berg in den Weiler Muri. Sechs Kilometer Wald auf einer engen Straße. Ich versuche, nicht in die Dunkelheit des Waldes zu schauen, der auf der rechten Seite der Straße steil ins Dorf abfällt. „Für all das muss ich viel stärker werden“, weiß ich. „Ich bin bereit, dafür jede Hilfe anzunehmen, die sich mir bietet.“ Ich zwinge mich, den Blick geradeaus zu halten, bis die Helle auftaucht, die hier oben über der Landschaft leuchtet.
Jetzt, Ende Mai, stehen die Wiesen im satten Grün mit dem buntesten Blumenschmuck da. Die Kirschbäume haben bereits ihre Blüten abgeworfen, das knospende Grün ist zu sehen. Wie schade, der Mai-Schnee ist vorbei. Ich bin ein paar Tage zu spät. Richtig kitschig schön ist das. Beschreiben kann man es nicht. Man muss es sehen. Genau wie damals, als das mit Sonja passierte. Damals, als die Frauen vom Dorf und die vom Berg Blumenköpfe sammelten für Fronleichnam. Wieder schaudert es mich wie an einem zu kalten Tag. „Ich muss lernen, das hier und jetzt zu ertragen. Vieles muss erledigt werden. Aber wie heißt es so wahr: Alles zu seiner Zeit.“
Der riesige alte Nussbaum, der die Sicht auf den Hof ziemlich verdeckt, taucht auf. Etwas von dem braunen,