Gardasee – ReiseMomente. Jochen Müssig
170.000: Auf diese Zahl kommt man ungefähr, wenn man alle Einwohner am See zusammenzählt. 170.000 von gut 60 Millionen Italienern insgesamt. Fast die gesamte Bevölkerung ist römisch-katholisch. Der sonntägliche Kirchgang gehört zur unausgesprochenen Pflicht, auch wenn die katholische Konfession seit 1984 keine Staatsreligion mehr ist.
Kirche von Castello di Brenzone
Der See ist ein Hammer
Wind im Haar und ein Glas Prosecco in der Hand, rechts und links die Berge und rund um die „Siora Veronica“ nur das Wasser des Gardasees. Die alte Dame, gebaut 1926, sticht bei gutem Wind mit zwei große Masten und vier mächtigen Segeln in See. Und bei einer Bootstour von Norden nach Süden erlebt man auch ein Stück Entstehungsgeschichte: Es waren insgesamt fünf Eiszeiten, die den Lago so wunderbar modelliert haben. Schönheit braucht eben seine Zeit. Im Großen und Ganzen reden wir von zwei Millionen Jahren, wobei die letzte dieser fünf Eiszeiten vor rund 20.000 Jahren den letzten Schliff gegeben hat und zwar durch den Würmgletscher. Bei Malcesine war er noch tausend Meter hoch, bei Garda, gerade mal gut 25 Kilometer weiter südlich, hatte er schon die Hälfte seiner Höhe verloren. Die gewaltigen Wassermassen, die aus dem Gletscher strömten, transportierten Unmengen an Geröll. Die größten Teile blieben am Gletscherende einfach liegen und formten die heutigen Moränenhügel des südlichen Hinterlands vom See. Schließlich schmolz der Gletscher zwischen den Bergmassiven und die schöne Hammerform des Lagos war vollendet. Das ist gerade mal 15.000 Jahre her, in der Geologie nicht mehr als ein Wimpernschlag.
Segelschiff „Siora Veronica“
Kein Ort, nirgends
Am Stiel im Norden ist der See schmal und von steil aufragenden Bergen umgeben wie ein Fjord. Das schöne Castello von Malcesine wirkt mit dem mächtigen Monte-Baldo-Massiv im Rücken wie eine Spielzeugburg. Hinter dem kleinen Campione ragen die Steilwände 400 Meter senkrecht in die Höhe. Doch ab Gardone an der Westküste und ab Garda im Osten ebbt alles ab. Die Bergwelt hat ein Ende. Nur noch ein paar Hügel gibt es zu sehen. Der Süden gibt sich breit, flach, fast wie ein Meer, und im häufig auftretenden Sommerdunst gilt: Kein Ort, nirgends, weil von der Seemitte kein Meter vom flachen Ufer mehr zu erahnen ist.
Die Steilwände von Campione
Oliven- und Limonen-Riviera
Das Ostufer von Malcesine bis Torri del Benaco ist die Gardesana Orientale, auch Oliven-Riviera genannt. Der Großteil der rund 700.000 Olivenbäume rund um den See ist am Ost- und Südufer zu finden. Alle Oliven werden für die Produktion des begehrten Olio extra vergine di Oliva, jenes unter Feinschmeckern und Gesundheitsbewussten so beliebten hochqualitativen Olivenöls vom Gardasee, verwendet. Während die Olivenernte immer noch von großer Bedeutung ist, spielt der Anbau der Limonen, anders als früher, keine tragende Rolle mehr. Unter Limonen-Riviera versteht man trotzdem immer noch das Westufer von Limone bis Salò: die Gardesana Occidentale. Die wichtigsten und größten Ortschaften freilich liegen im Süden mit Desenzano und mit Riva im Norden.
Tunnel an der Limonen-Riviera
Top 10
„EIN KÖSTLICHES SCHAUSPIEL, DER GARDASEE“
Das schrieb Goethe 1786 auf seiner Italienischen Reise. Und es gilt bis heute! Ob wunderbare Sehenswürdigkeit oder prickelndes Erlebnis, ob auf dem Land, zu Wasser oder in der Luft: das Beste vom Lago di Garda. Must see! Must do! Los geht’s!
1Torbole um halb sieben: Die ersten Sonnenstrahlen blinzeln über den Monte Baldo und sofort nimmt jeder Surfer sein aufgebautes Rigg in die Hand. Schnell ist der See voller bunter Segel und die Windsurf-Cracks zeigen Speed und ihre tollen Tricks. Morgens treibt sie der Pelér voran, auch einfach Vento oder Nordwind genannt. Ab 14 Uhr – wie praktisch: nach der mittäglichen Pasta-Pause – setzt dann die Ora ein, der stetige Südwind.
2 Gardesana oben ohne: Mit einem schnieken Cabrio oder einem süßen Roller rund 40 grandiose Kilometer am Ostufer entlang: Dort, wo Olivenbäume und Zypressen das Bild bestimmen und man durch weniger Tunnel, in denen es keine Haltemöglichkeiten gibt, fahren muss als auf der Westseite. Die Gardesana Orientale verläuft fast die ganze Zeit unmittelbar am Wasser. Zahllose Strände laden zum Bad, Bars auf ein leckeres Gelato und Ristorante auf Pontons zum Pranzo, dem Mittagessen. Das muss „La dolce Vita“ sein!
3Malcesine und das Bild vom See: Das Castello Scaligero aus dem 13. Jahrhundert ist nicht ein, sondern das Wahrzeichen des Gardasees. Erhaben besetzt die markante Burg den Felsvorsprung von Malcesine. Goethe zeichnete sie und wurde als scheinbarer Spion sogar kurz festgesetzt. Vom Turm sieht man auf eine fast geschlossene Dächerschicht. Und Hochzeitspaare lieben das Castello als ihre Romantikkulisse: „Schöner als im Prospekt versprochen“, sagen sie.
4Über den Gipfeln ist Ruh’: Ob Schauderterrasse im Westen, Aussichtsterrasse Belvedere im Norden oder Balcone del Garda im Osten: Es gibt wunderschöne Plätze für Traumblicke auf den Gardasee. Wer aber den Mut hat, einen Paragliding-Tandemflug vom Monte Baldo zu wagen – oder selbst zu fliegen, wenn man’s kann – der wird einzigartige Blicke mitnehmen und die Freiheit über dem See im Wortsinn grenzenlos genießen. Abflug ist auf 1800 Metern Höhe. Jeder zwischen zwölf und 80 Jahren kann ohne Vorbereitung mitfliegen.
5Der schönste Ort der Welt: Gibt es den überhaupt? Ja, es gibt sogar viele davon! Einen legte der Humanist Agostino Brenzone fest und legte schlüssig dar: „Der schönste Erdteil ist Europa, und davon ist Italien der schönste Teil, von Italien wiederum der Gardasee und an diesem San Vigilio. Ergo ist San Vigilio der schönste Ort der Welt“. Der Mann folgte seiner Argumentation und ließ sich an der Punta San Vigilio, zwischen Torri del Benaco und Garda, seine Villa bauen …
6Die Wasserburg von Sirmione: Wie in einem Bilderbuch thront eine der besterhaltenen und größten je gebauten Scaliger-Anlagen aus dem 13. Jahrhundert auf der größten Halbinsel des Gardasees: Komplett von Wassergräben umgeben, hat das Castello von Sirmione Zugbrücken, Burgfried und die für die Scaliger-Bauweise so typischen zinnengekrönten Burgmauern. Leider sorgt die Anziehungskraft des Castello besonders an Ostern und Hochsommer-Wochenenden auch für unangenehmen Overtourism.
7Bei der Contessa auf der Isola: Zypressen geben der Isola del Garda die Silhouette von Zinnen, Zacken und Spitzen. In der Mitte dominiert das gräfliche Schloss, zu dem Besitzerin Contessa Alberta bescheiden „Villa“ sagt: ein Palazzo in neugotisch-venezianischem Stil. Die Treppen, Terrassen und Gärten fallen bis zum See hinab. Eingewebt ist der 1903 fertig gestellte Palast von Akazien, Zitronenbäumen, Agaven, Magnolien. Und begonnen hat alles mit einer Liebesgeschichte von Albertas Mutter in Rom ... Ein Traum – aber ganz real.
8Privileg