2136. Tino Hemmann

2136 - Tino Hemmann


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hingegen waren einst Wilde gewesen. Sie wuchsen mit oder ohne Angehörige und unüberwacht in der Kargheit jenseits der geschützten Städte auf und gehörten zur Brut der Abtrünnigen. Wurden sie während einer Treibjagd gefangen, brachte man die kleinen männlichen Exemplare zunächst zum Chippen in die »Beutemast« auf Schiereiland und erst später, so auch sie das achte Lebensjahr erreicht hatten, zur Abrichtung in die südlichen Rottenquartiere der EDR. Fast alle anderen Abtrünnigen, die nicht in das Schema der Rotten passten, wurden während der Treibjagden umgebracht.

      Die Rottenführer schienen allesamt Weiber zu sein. Sie gaben ihrer jeweiligen Rotte den Namen. Oder wurden die Weiber nach der Rotte benannt? Simo wusste von einer Boa- und einer Viperrotte. Ihn aber hatte man in die Pythonrotte gesteckt. Er hasste die Rottenführerin Python. Er verachtete auch 01-Spundgruppenführer-Elia. Er hasste alle Educares, verabscheute die Rottenausbildung und das ganze System. Elia, die Nummer 01 seiner Gruppe, war selbstverständlich auch ein Educares. Alle Gruppenführer waren Educares! Die Gene, die Elia erschaffen hatten, waren kontrolliert rein und ausgezeichnet, sein Körper schien extrem kräftig, widerstandsfähig, mit angeblich stählernen Knochen und voller Muskeln, sein Haar leuchtete hell und rötlich schimmernd. Obwohl Elia etwas jünger war als der schmächtige Simo, überragte er diesen um eine deutliche Kopflänge. Der Gruppenführer trug die Schirmmütze und das GMG-40, ein Gehirn-Manipulations-Gerät. Simo hatte Elias Finger genau beobachtet.

      Das GMG war ein flaches Gerät, das an einer Leitung an Elias Gürtel baumelte. Im oberen Bereich besaß es drei Sensortasten, mit denen die Strafeffektivität eingestellt wurde. Darunter waren sieben Reihen mit je sechs Tasten, durchnummeriert von 02 bis 43. Taste 17 gehörte zu Simo und eine Taste 01 gab es nicht. Warum auch sollte sich Elia selbst bestrafen? Hatte Elia etwas an Simos Verhalten auszusetzen, stellte er oben die Art der Bestrafung ein und drückte die Taste 17. Wie auch immer es Elia gefiel, drückte er entweder kurz oder aber lang darauf. Der Chip in Simos Rückenmark sorgte für einen quälenden Schmerz in seinem ausgemergelten Körper. Nasenbluten oder eine Ohnmacht konnten folgen. Eine bestimmte Einstellung des GMG-40 würde sogar zum Tod des zu bestrafenden Spundes führen.

      Die Python besaß ebenfalls ein GMG, aber ein ganz anderes, ein größeres, mit viel mehr Tasten. Sie konnte auch die Spundgruppenführer bestrafen, ebenso wie eine ganze Gruppe, oder gar die komplette Rotte gleichzeitig ausschalten.

      34-Spund-Paul, einer aus Simos Gruppe, hatte einst berichtet, er hätte mit eigenen Augen gesehen, dass eine Spundgruppe tot umgefallen sei, nachdem es eine verbale Auseinandersetzung mit der Python gegeben hätte. Es sei vor Simos Zeit in der Rotte gewesen. »Paul das nicht erdichten«, hatte der elfjährige Räudiger versichert. »Python g’glättet 48 Spunds, glaubt’s, in erbärmlichem Augenblick.«

      Mädchen gab es in der Rotte jedenfalls keine. Wenn überhaupt, dann gab es hier nur das eine erwachsene Weib, die Python. Einen richtigen Mann hatte Simo nie wieder zu Gesicht bekommen, seit Jahren nicht. Der letzte, den er gesehen hatte, war jener Mann gewesen, den er »Papa« genannt hatte, dessen Gesicht in Simos Träumen jedoch mehr und mehr verblasste.

      Mit dem Begriff »Glätten« synonymisierten die Demokraten das Neutralisieren, das Töten, das Vernichten auf dem Territorium der EDR. Redeten sie aber vom Feind, dann nannten sie es »Schlachten«. Die aufgezwungene Sprache Der Zehn verharmloste viele böse Dinge. Statt »Kindsoldat« sagten sie »Spund«, statt »töten« »glätten«, statt »quälen« und »erniedrigen« sagten sie »befähigen«.

      Die Räudiger und die Educares sprachen in sehr unterschiedlichen Dialekten. Das hatte seinen Grund. Educares erfuhren eine Ausbildung, die Räudiger nicht. Die künstlich erschaffenen Educares wurden im ersten Lebensjahr als »Spundbrut« und anschließend als »Klitzespund« bezeichnet. Während ihrer Kindheit und in den Rotten wurde ihnen ein Grundlagenwissen beigebracht, das mit den Lehren und Anschauungen der Regenten der Europäisch Demokratischen Republik durchsetzt war. Die Räudiger hingegen lernten nur die wortkarge Sprache der Abtrünnigen. Selbst die jüngsten gefangenen Räudiger wurden nicht unterrichtet. Einzige Ausnahme war die militärische Grundausbildung. Allseits galten die Spunde der Abtrünnigen als minderwertige Menschen und man ließ es sie deutlich spüren. Räudiger besaßen keine Rechte und jede Führungsposition in den Rotten wurde stets aus den Reihen der Educares besetzt.

      Innerhalb der Rotten existierten zwei unterschiedliche Ausbildungslinien, die großen Einfluss auf die Außenausbildung ausübten. So entstanden Spundschützen, die mit ihren kleinen Gewehren umzugehen lernten, oder Spundspione, die dazu befähigt wurden, sich in der fast menschenleeren Umgebung Europas und des Morgenlandes zurechtzufinden und die Spundschützen zu ihren Zielen zu führen.

      Erst mit zwölf Jahren wurden die Jungen als »Jungspunde« bezeichnet und verließen die Rotten. Dann kamen sie in militärische Ausbildungslager, die an der südlichen Grenze gelegen waren. So hieß es zumindest. In der Rotte wurde viel über die Zeit »danach« gefachsimpelt und die Ansprachen der Python schürten all die Vorstellungen und Träume der kleinen Krieger, von denen sich einige immens darauf freuten und es kaum abwarten konnten, die Armeen des Morgenlandes schlachten zu können.

      Die Educares wurden bereits gechippt, wenn die Zucht den Eingriff in die Brut zuließ. So konnten die Scanner sie von Beginn an unterscheiden. Viele der Educares sahen sich recht ähnlich, denn die künstliche Aufzucht erfolgte oft in genetisch identischen Gruppen.

      Die Räudiger, von den Fängern als »Beute« bezeichnet, chippte man meist unmittelbar nach dem Fang. Da sie meist schon einige Jahre alt waren und das Chippen, das durch einen Med-Roboter durchgeführt wurde, ohne Betäubung erfolgen musste, da sonst die Gefahr bestand, dass das Rückenmark den Fremdkörper abstieß, war es für die Räudiger ein unglaublich schmerzlicher Vorgang. Simo erinnerte sich nur sehr ungern daran, denn es waren üble Sturzbäche von Tränenwasser gewesen, die tagelang aus seinen Augen geflossen waren, bis der Kopf völlig geleert schien.

      Die Beutemast auf Schiereiland bestand aus Ställen, in denen jeweils zwanzig Räudiger untergebracht werden konnten. Die Aufsicht führten einige Frauen, sogenannte »Instrukteurinnen«.

      Ernährt wurden die kleinen Räudiger mit der Pampe, einem merkwürdigen Brei in einer klebrigen Substanz, die Simo sehr oft den Mageninhalt ungewollt entleeren ließ. Diese wurde auch den Spunden in den Rotten verabreicht.

      Die Chips überwachten ihren Spund zu jeder Zeit – alles, was die Jungen taten, wurde ausgewertet, ebenso wie Kraft und Ausdauer, der Zustand ihrer Organe sowie die Zuverlässigkeit des Gehirns. Durch die Bewegungsenergie des jeweiligen Trägers wurden die Chips energetisch versorgt. Über das GMG der Rottenführerin schickten sie sämtliche Daten zu einem System namens Praescius, dem Datenverarbeitungssystem und Hauptspeicher der Europäisch Demokratischen Republik, wo sie gesammelt und ausgewertet werden konnten. Direkt im Chip verblieben lediglich die unmittelbaren Daten zum Spund selbst. Starb ein Spund bei einem Unfall, an einer Krankheit oder durch eine Verletzung oder wurde er geglättet, so löschten sich seine Praescius-Daten automatisch, ebenso wenn ein Chip zur Wiederverwendung entfernt wurde oder wenn seine Energie erschöpft war. Praescius übermittelte sein Feedback an das GMG der Führerin und an den Chip des Trägers. Allerdings wandelte Praescius alle Informationen in ein leicht verständliches Prozentsystem um, welches die Demokraten »Güte« nannten. So war Güte 100 die höchste erreichbare Stufe. Bei 0 Prozent war der Träger tot, unter Güte 10 unbrauchbar, wobei auch hier Unterschiede zwischen Räudigern und Educares gemacht wurden. Erkrankte ein Räudiger schwer und sank dadurch seine Güte unter einen Wert von 10, dann wurde er fast immer geglättet, damit medizinische Versorgungskosten gespart wurden. Die Educares weinten ihm meist keine Träne nach. Geschah selbiges mit einem erkrankten Educares, so wurde er zunächst in die kleine Medizinische Überwachungsstation (MÜS) im Zentrum des Rottenkomplexes gebracht, in der es einen medizinischen Apparat gab. Educares ließ man seltener sterben.

      Simo sagte eines Tages zu Paul: »Erschwingliche Energiezellen der Demokraten wir sind.«

      Und Paul flüsterte zustimmend: »Yäh. Wenn leer, dann sich vom Hals schaffen sie uns.«

      Einen Moment lang überlegte Simo. »Weißt, 34, auseinanderstromern müssen Chip und Spund«, sagte er schließlich.

      Die Spunde redeten sich innerhalb


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