Gesundheit – ein Gut und sein Preis. Sabine Predehl
bei fortdauernder Belastung kommt es zu einer chronifizierten Entzündung der Bronchien, in deren Folge Lungengewebe zerstört wird, so dass in der Lunge kein Gasaustausch, also keine regelrechte Atmung mehr stattfinden kann:
„Bei chronischer Reizung der Atemwege kommt es zu Umbauvorgängen mit Vermehrung seröser und muköser Drüsen und Zerstörung der normalen Schleimhautarchitektur. Die oralwärts schlagenden Zilien werden zunehmend zerstört und sind dann nicht mehr in der Lage, den Schleim aktiv zu transportieren. Dem Patienten mit schwerer chronischer Bronchitis dient dann nur noch der Hustenstoß als effektiver Clearencemechanismus. Kontraktion der Bronchialmuskulatur, entzündliche Infiltration der Bronchialschleimhaut ... führen zur chronischen Bronchialverengung, Bronchiektasenbildung und Instabilität der Atemwege. Durch die chronische Entzündung kommt es weiterhin zu einem Ungleichgewicht zwischen Proteasen ... und Antiproteasen … mit konsekutiver Zerstörung der terminalen Atemwege und Alveolarsepten. Folge ist ein Lungenemphysem.“ (H. Greten; a.a.O., S. 428 f.)
Immer mehr Menschen leiden an psychischen und psychosomatischen Störungen:
„Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat ... ermittelt, dass die Zahl der Krankschreibungen wegen der Zusatzkategorie Burn-out (Z73 im ICD-10-GM) seit 2004 um fast 700 Prozent gestiegen ist. In 85 Prozent dieser Fälle diagnostizierte der Arzt zusätzlich eine psychische oder körperliche Erkrankung.“ (Deutsches Ärzteblatt 2012; 109(24))
Woher die kommen, ist der Medizin nicht nur beim Burn-out – da steckt die Sache schon in der Bezeichnung – durchaus bekannt:
„So führten chronische Überforderung und Stress ... zu psychischen und psychosomatischen Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen, Rückenschmerzen, Tinnitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.“ (Deutsches Ärzteblatt; a.a.O) 3)
Psychische Belastungen, Überforderung, Angst, Stress, Aufregung, warum auch immer ungelöste Konflikte können Menschen fertigmachen, auch ohne körperliche Schäden anzurichten: Sie werden unfähig, mit sich und der Welt etwas Brauchbares anzufangen – womöglich, in dieser Gesellschaft der GAU, arbeitsunfähig. Ganz häufig wirkt sich das „gestörte“ Seelenleben aber auch auf ihre Physis aus: Belastungen und die andauernden Versuche, damit fertigzuwerden, führen zu einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems, was in die Regulation der meisten Organe eingreift. Ist das von Dauer und können die physiologischen Folgen vom Organismus nicht kompensiert werden, schlägt sich die chronische Aktivierung des vegetativen Nervensystems in unterschiedlichen Krankheiten nieder, wobei sowohl ein bereits bestehender Organdefekt angeheizt werden als auch eine völlig eigenständige Krankheit entstehen kann.
„Zu diesen Krankheiten gehören: Koronare Herzkrankheiten und ihre Folgeerkrankungen, essenzielle Hypertonie, Asthma bronchiale, Ulcus ventriculi und duodeni, chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn), rheumatische Arthritis, Fybromyalgiesyndrom, atopisches Ekzem und zahlreiche andere Erkrankungen.“ (P.L. Janssen; Leitfaden psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 2012, S. 39)
Dabei ist an den physiologischen Folgen natürlich gar nicht zu unterscheiden, ob der Mensch an Einbildungen leidet oder an wirklichen Belastungen, deren Grund und Gegenstand er nicht ausräumen kann; sei es, weil er tatsächlich gar nicht Herr darüber ist, sei es, weil er seine Unzufriedenheit von vornherein gar nicht auf die Dinge und Verhältnisse richtet, die ihn stören, sondern gegen sich selbst. Die Medizin diagnostiziert hier „durch chronischen Stress bedingte Dysbalance“:
„In psychopathologischer Perspektive sind mit Organdestruktion einhergehende körperliche Erkrankungen, bei denen psychosoziale Faktoren mit verursachend sind, keine einheitliche Gruppe. Allerdings gibt es eine Reihe klinischer und empirischer Evidenzen für die Annahme, dass krankheitsübergreifend eine durch chronischen Stress bedingte Dysbalance in der vegetativen Organinnervation besteht, begleitet von entsprechenden neuroendokrinologischen und neuroimmunologischen Abweichungen...“ (P.L. Janssen; a.a.O., S. 39)
Trotzt der Mensch den beliebtesten Todesursachen, indem er mit den modernen Volksseuchen jahrzehntelang überlebt, hat er im Alter beste Chancen, an einer der vielfältigen Formen von Demenz zu erkranken:
„Risikofaktoren für eine Demenz: Alter, weibliches Geschlecht, niedriges Körpergewicht bei weiblichen Patienten, Demenz bei Verwandten, vorangegangene Kopfverletzung, niedriges Bildungsniveau, Demenz im Anfangsstadium, bestimmte neurologische oder genetisch bedingte Erkrankungen, vorangegangener Schlaganfall, riskanter Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit, vaskuläres Risikoprofil (z.B. arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus, Diabetes mellitus etc.).“ (DEGAM-Leitlinie Demenz; 2008, S. 21)
Die professionelle Abstraktionsleistung, die das Disparateste unter dem Obertitel „Risikofaktoren“ versammelt, einstweilen dahingestellt (dazu später): Auch Demenz, so viel geht aus den „Leitlinien“ allemal hervor, ist weniger die Folge natürlicher Alterungsprozesse, vielmehr in der Regel die Auswirkung von Abstumpfung und Belastungen, die bis ins hohe Rentenalter ausgehalten werden, gegebenenfalls einschließlich schon manifest gewordener ruinöser Konsequenzen.
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Alle genannten Leistungen und Belastungen des Organismus und der Psyche machen sich in aller Regel nicht als akute Überanstrengung geltend, sondern zeigen erst nach längerer Zeit ihre Wirkung – pathologische Wirkungen, die dann, verselbständigt gegen ihren Entstehungsgrund, Folgeschäden verursachen. Zu eigentlichen Krankheiten werden die allmählich auftretenden Beschwerden dadurch, dass man die Belastungen aushält und mit ihnen umgeht; und zwar so lange, bis sie nicht mehr ausheilbar sind.
Den chronischen Erkrankungen, an denen in dieser modernen Gesellschaft so stereotyp laboriert wird, ist also eines wesentlich: Sie sind die Folgen von Belastungen, die darüber zu Krankheiten werden, dass die Betroffenen sich dauerhaft abverlangen, sie auszuhalten.
2. Moderne Krankheitsursache: die Klassengesellschaft
Belastungen, Strategien des Aushaltens und erst recht die daraus resultierenden Krankheiten treten allemal auf in Form von – mehr oder minder schweren – Einzelschicksalen. Ihr allgemeiner Charakter, ihre gar nicht individuelle, vereinzelte Notwendigkeit ist aber allgemein bekannt; den um ihre Gesundheit besorgten Patienten und Noch-nicht-Patienten so gut wie den Medizinern, die den Menschen beim Aushalten helfen. Eine offene Frage sind sie jedenfalls nicht: die Ursachen dafür, dass die Eingeborenen der zivilisierten Welt so einfallslos an immer den gleichen Gebrechen leiden und sterben.
Krankheitsursache Lohnarbeit
Beim Arzt stellen sich – spätestens als Rentner – die Opfer einer Arbeit ein, die fortwährende Verausgabung der einseitigsten Art erfordert und den Leuten Nerven, Muskel, Gelenke usw. ruiniert. Natürlich weiß jeder Patient für sein Leiden ganz spezielle Arbeitsbelastungen anzugeben – sofern er die nicht als selbstverständlichen Daseinsumstand vergisst –, die ihn treffen wie ein Zufall. Die gleichförmigen Ergebnisse sind jedoch alles andere als eine zufällige Häufung von Zufällen.
So hat die großartige Errungenschaft der modernen Industrie, den Fordismus überwunden zu haben, den Bedarf an schwerer körperlicher Arbeit mehr modifiziert als überflüssig gemacht. Heute sind einseitige, anstrengende Montagearbeiten, Laufdienste und anderes mehr denn je unter maschinell gesteuerte und programmierte Arbeitsprozesse subsumiert; die zu erbringende Leistung wird durch den Takt der Maschinerie vorgegeben und verdichtet:
„Die intelligente Fabrik der Zukunft kennt keine Planungs- und Steuerungsebenen mehr. Ein digital eingehender Auftrag wird sofort in die Produktion eingespeist. Dort wird der Auftrag an einen autonomen, sich selbst digital steuernden Montageassistenten weitergeleitet. Dieser Montageassistent – eine sich selbst bewegende Werkbank – fährt alle Montagestationen an und weist dem dort tätigen Mitarbeiter visuell seine Tätigkeiten zu... Das System plant optimal ein und erstellt eine neue Ablaufplanung für die kommenden Stunden. Das kann dazu führen, dass Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz häufig wechseln, im Gegensatz zur früheren Bandarbeit. Das geht, weil sie auch am neuen Arbeitsplatz ohne Einarbeitung anfangen