Der Sound Gottes. Rainer Bayreuther
sind es immer mehr, die es nur wegen der Musik tun. Stabil seit über zweihundert Jahren, seit der Säkularisation von 1803 nämlich, als sich in der klerikalen Peripherie eine bürgerliche Kirchenmusik bildete, werden die Programme der großen, konzertanten Kirchenmusik von denselben Schlachtrössern dominiert: Händels Messias, Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem, den drei Bach’schen Oratorien. Das Angebot bestimmt die Nachfrage, die Nachfrage das Angebot. Der Kreislauf im engen Radius bringt nach wie vor Sänger in die Chöre. Er hält Sponsoren und Kulturpolitiker bei der Stange, die sich allemal lieber mit dem Bekannten und Bewährten schmücken als mit Experimenten. So lässt eine geschlossene „self fulfilling prophecy“ die wenigen Satelliten um sich selber kreiseln. Um den schmalen Erfolg nicht zu riskieren und eine der letzten Gewissheiten der Kirchenmusik nicht zu erschüttern, bewegt man sich lieber nicht von der Stelle.
Die Phantasielosigkeit auf den kirchenmusikalischen Programmzetteln ist aber nicht das eigentliche Problem. Die Kirchenmusik ist mittlerweile findig geworden, die ganze Kirchenmusikgeschichte zu bespielen. Musik aus dem Mittelalter, aus der Moderne oder dem Pop ist kein Tabu mehr. Wir werden sogar sehen, dass es tief im Wesen der Kirchenmusik liegt, ihr Repertoire ständig zu entgrenzen und zeitgemäß zu halten. Kirchenmusiker und Pfarrer finden selbstverständlich Händel erhebend und Mozart göttlich und geben augenzwinkernd zu, dass sie auch schon mal inkognito nach Wacken fahren. Religiöse Erfahrungen machen sie hier wie dort nicht, und wenn ein klein wenig doch, dann eher dort als hier.
Eine tiefer gehende Problemanzeige ist, dass der Traditionsfundus auf Werke hin abgegrast wird, die funktionieren. Die funktionieren bei einer bestimmten Zielgruppe, in bestimmten Stimmungslagen, für diese und jene Kasualien. So bilden und erneuern sich die Repertoires. So zieht man mit den bewährten Schlachtrössern in den Kampf, bis sie nach Jahrzehnten doch irgendwann lahm und siech werden. (Wer spielt, wer kennt heute noch Grauns Passion, Schneiders Weltgericht, selbst Beethovens Missa solemnis? Bewährte Schlachtrösser über Jahrzehnte, die jetzt das Gnadenbrot der CD-Einspielungen fressen.) Aber alle diese längeren oder kürzeren Konjunkturen sind merkwürdig irrelevant bei den großen Verfallserscheinungen der kirchlichen Frömmigkeit. Die manchmal immer noch prächtige und erhebende klassische Kirchenmusik dreht nur am Hamsterrad. Das ist es, was müde macht.
Ein anderer Füllstoff ist Bach, Bach und immer wieder Bach. Bach sei das fünfte Evangelium. Evangelien sind sakrosankt, aber nicht, weil irgendwelche Autoritäten sie für kanonisch erklären. Der Grund für die Heiligsprechung ist, dass aus ihnen mit objektiver Zuverlässigkeit Heil und Segen strömt. Die Autorität, die Bach zum Evangelisten erklärt hat, war übrigens nicht der Arzt, Theologieprofessor, Orgelvirtuose und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer. Ihm wird das Diktum fälschlicherweise zugeschrieben, aber was er tatsächlich gesagt hat in seinem Bachbuch, fordert auf zum Sitzenbleiben: „So ist Bach ein Ende. Es geht nichts von ihm aus; alles führt nur auf ihn hin.“1 Was ist, wenn viele nicht zu ihm hingeführt werden, weil sie auf diesem Feld der Kirchenmusik gar nicht mehr unterwegs sind? Was ist, wenn das Offensichtliche offensichtlich wird, dass Bach kein Evangelist ist, sondern einfach ein sehr guter Komponist von Kirchenmusik? Wenn das Hohle, Verlegene, Verlogene dieser Formel herauskommt?
Die Orgel, noch so ein Polstermaterial. Sie ist limitiert in ihren Ausdrucksmöglichkeiten wie andere Instrumente auch, das gibt jeder zu. „Danke für diesen guten Morgen“ auf der Orgel zu begleiten ist aus stilistischen Gründen suboptimal. Aber andererseits ist sie doch auch das Welteninstrument, die Universalmaschine, die Gott selbst baut und spielt, wie ein katholischer Autor im 17. Jahrhundert einmal wirkmächtig schrieb. Von einer E-Gitarre kann man das nicht gerade sagen. Daher darf dieses Instrument wuchtig in jeder Kirche stehen und, Stilbedenken hin oder her, alles und jedes begleiten. Es gibt nämlich allem und jedem das Kirchengschmäckle. „Danke für diesen guten Morgen“, „I did it may way“ und „Highway to hell“ auf der Orgel gespielt klingen plötzlich wie von einem Kirchenmusiker komponiert. Wie Bach ist die Orgel „the winner that takes it all“. Eine riskante Wette auf ein einziges Pferd. Sie zwingt alle Musik, die auf ihr stattfindet, in ihre Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Die Kirchengemäßheit all dessen, was durch ihre Pfeifen strömt, ist garantiert. Aber diese Art Beruhigung ist beunruhigend, von ihr geht nichts aus, alles führt nur auf sie hin, sie ähnelt Beruhigungspillen.
In der Kirchenmusik kursieren Totschlagargumente. Ein Totschlagargument lässt jedes Gegenargument so dastehen, als habe es den Zusammenbruch zur Folge. Der Status quo ist zwar nicht optimal, niemand in der Kirchenmusik hat das in der jüngeren Vergangenheit behauptet. Aber jede Veränderung würde alles nur noch schlimmer machen. Aus dieser Haltung ist eine paradoxe Melange aus Unmut und Selbstzufriedenheit, aus kreisendem Stillstand, aus laut gähnender Müdigkeit erwachsen. Kirchenmusikmikado: Wer sich bewegt, hat verloren.
Jetzt schrillen die Alarmglocken der kirchlichen Versammlungsbeschränkungen, der Singeverbote, der Verlagerung des Frommseins ins Virtuelle, der unweigerlich auf die Kirchenmusik durchschlagenden Wirtschaftskrise. Die Kirchenmusik muss sich bewegen, aber erstens tut es fürchterlich weh, und zweitens weiß sie nicht wohin. Impulse des Aufstehens hat es in der Geschichte der Kirchenmusik viele gegeben. Der Protestantismus der Lutherzeit protestierte gegen das überbordende Kunstgebaren der katholischen Kirche. Die Restauration des späten 18. Jahrhunderts forderte für die Kirchenmusik ein „back to the roots“, in beiden Konfessionen. Die Liturgiebewegung im späteren 19. Jahrhundert, ebenfalls konfessionsübergreifend, mahnte das satte bürgerliche Oratorienwesen zu musikalischer Diät und liturgischem Training. Das Zweite Vatikanische Konzil der 1960er-Jahre beschloss den kirchenmusikalischen Pluralismus.
Diese Reformen haben den Finger in Wunden der Kirche und immer auch der Kirchenmusik gelegt. Sie haben – aus tiefliegenden theologischen Gründen – aber immer nur ein Ja-aber hervorgebracht. Ihre Predigt war am Ende immer: aufstehen und sitzenbleiben gleichzeitig. Die Kirchenmusik ist verkeilt in einer widersprüchlichen Situation, und zwar seit Jahrhunderten. Vielleicht zeitigt die gegenwärtige Krise den Impuls, der endlich ausreicht, um sich aus dem Geflecht herauszuwinden. Vielleicht ist sie groß genug, dass die alten Argumente des Ja und des Aber von selber zerbröseln. Vielleicht aber reicht sie immer noch nicht aus fürs Aufstehen aus dem Ohrensessel. Ich bin kein Prophet und schon gar kein Evangelist. Dieses Buch versucht nichts weiter, als die gegenwärtige Lage der Kirchenmusik zu denken, worunter letztlich zu verstehen ist: die gegenwärtige Lage Gottes und seines irdischen Erklingens zu denken.
Schon früh in der Geschichte des Christentums, in der Schülergeneration des Paulus, etablierte sich ein Muster der Kritik, mit dem die Kirche ihre eigene Kirchenmusik in die Schranken wies. Immer wieder waren es die Instrumente, die aus der Kirchenmusik zu verbannen waren, so schon bei den Kirchenvätern selber, im Tridentinischen Konzil des 16. Jahrhunderts oder bei den Caecilianern des 19. Jahrhunderts. Zu viele Worte, das war das Angriffsziel der päpstlichen Bulle Docta sanctorum aus dem 13. Jahrhundert. Die falschen Worte, nämlich nicht die der kanonischen Liturgie, so wiederum das Tridentinum und Joseph Ratzingers Angriff auf die Lockerungen des Zweiten Vatikanums. Das Zerstreuende der Musik, an dem sich Zwingli störte.
In diesen Säuberungen steckt eine Zuspitzung des christlichen Kultus auf einen einzigen pointierten Grundgedanken, den des ganzen Gottes im ganzen Menschen. Mit diesem Muster läuft man unweigerlich in eine widersprüchliche und ausweglose Situation hinein. Betrachten wir die Reformatoren. Ihr Protest richtet sich gegen die katholische Tendenz, alles Große und Schöne in der Welt als fortgesetztes Schöpferhandeln Gottes aufzufassen. Die prächtigsten Bauten, die anmutigsten Gedichte, die kühnsten Kompositionen, die intensivsten leiblichen Erfahrungen, alles gehörte tendenziell zur Summe der Theologie (Thomas von Aquin), zur Gesamtheit des Logos Gottes. Also darf es in der Musik vorkommen. Nein, hält Zwingli mit dem Kritikmuster radikal dagegen, diese Summe ist nicht der ganze Mensch, sie ist die menschliche Anmaßung von Ganzheit. Die menschlichen Hervorbringungen sind von der göttlichen Schöpfung in Wahrheit unendlich weit weg, getrennt durch die Sünde, also fort mit ihnen. Im Herzen singen hieße radikal mit Zwingli, nur im Herzen zu singen und nicht mit Mund und Hand.
Man sollte Zwinglis Rigorismus ernsthaft nachtrauern. Was nämlich Luther dem an Halbherzigkeiten und Konzessionen entgegnet, hat vorderhand die schöne Vokalpolyphonie seiner Zeit gerettet, tatsächlich aber die Widersprüche der Kirchenmusik als DNA für scheinbar immer und ewig eingepflanzt. Die