Der Sound Gottes. Rainer Bayreuther
Melanchthon ist die Blaupause für all das, was heute an den evangelischen Hochschulen unter „Pädagogik“ oder „Vermittlung“ des christlichen Glaubens firmiert. Bei Melanchthon lernen die Kirchenmusiker, wie sie komponieren müssen, damit das Bibelwort ganz tief reingeht. Ein winziger Spalt zur Theologie bleibt, wie gesagt, aber das ist jetzt egal. Da der Mensch nicht die Seite wechseln kann, nähert er sich von der anthropologischen eben so dicht an, dass er so gut wie drüben ist. Die Lücke des Erkenntniszweifels ist geschlossen, nun ja, so gut wie.
Luther siedelt das hehre Wort Gottes hüben und drüben, bei Gott und beim Menschen, beim Sender und beim Empfänger an. Es soll auf beiden Seiten zugleich und folglich irgendwie zwischendrin sein. Da man naturgemäß über die göttliche Seite des Verhältnisses nichts Genaues wissen kann, hält man sich an die menschliche. Die göttliche Seite wäre Theologie, die menschliche ist Anthropologie und Psychologie. Musikalisch angewandte Anthropologie und Psychologie heißt in der lutherischen Kirchenmusik „musica poetica“: eine Musik, die auf Bibelwort oder Predigtwort basiert, die jedes dieser Wörter auf seine psychologische und rhetorische Vermittlungsmöglichkeit hin prüft – und zwar eines nach dem anderen, siehe Distler – und jedes entsprechend klanglich verpackt.
Zwischen dem lutherischen Gottesdienst und dem katholischen Ritus besteht ein fundamentaler Unterschied. Die liturgischen Elemente des lutherischen Gottesdiensts sind Slots. Ihre Kontexteigenschaften sind festgelegt, ihr Inhalt freibleibend – aus gutem Grund, wie wir jetzt sehen. Der Inhalt muss austauschbar sein, um an die psychischen Bedingungen der Empfängersituation angepasst werden zu können: an die jeweilige Kirchenjahreszeit und ihre typische Gemütslage, an die Kirchengemeinde und ihre politische Situation, an den einzelnen Menschen, seinen Typ und seine Sorgen. Die Kirchenmusik muss zielgruppenorientiert arbeiten. Sonntag für Sonntag, Kirchengemeinde für Kirchengemeinde etwas Neues, aber vom äußeren Zuschnitt produktförmig.
Die Stücke der evangelischen Kirchenmusik funktionieren, als ob sie Druckerzeugnisse wären. Sie werden selbst produktförmig, konfektioniert für einen theologisch, vor allem aber psychologisch definierten Slot. Ein massenhaft druckbarer Bibeltext liegt vor, er ist im wahrsten Wortsinn Vor-Lage. Auch ein Kirchenlied ist Vorlage, es liegt vor wie ein Druckexemplar. Das Vor-Liegen ist visuell, es aktiviert den Sehsinn. Etwas liegt gleichzeitig neben einem anderen und einem dritten, man kann vergleichen, man kann auswählen. Die zeitverbrauchende oder zeitgebende Performanz des Schreibens, Sprechens oder Singens eines Texts, die die klösterliche Liturgie im Mittelalter prägte, ist verschwunden.
Das Wort ist durch seine Druckbarkeit und durch die liturgischen Slots produktförmig geworden. Dadurch kann es rasch und massenhaft zu den Empfängern gelangen. Der Empfänger sind viele, und sie sind durch die Produktförmigkeit erst einmal alle gleichgesetzt. Das stimmt insofern, als alle gleichermaßen Menschen sind und gleichermaßen vom Erkenntniszweifel geplagt. Es stimmt insofern nicht, als jeder Mensch und jeder Zweifel individuell ist. Die Individualität muss adressiert werden. Wie immer in der Psychologie des Massenprodukts geschieht das durch das Design, das die emotionale und die motorische Aktivität des Empfängers aktiviert. Diese Aktivität lässt ihn das Produkt als das individuell für ihn gemachte Ding erscheinen. So kaschiert das Produkt seine Produktförmigkeit. Hier wird deutlich, was das „Transportmittel“ Musik, wie wir es genannt hatten, in Wahrheit ist: Es ist das Design des vorliegenden Wortes Gottes, das die Vorlage beim Empfänger ins Performative überführt und in ihm die Individualisierung bewirkt, die für die Überwindung des Erkenntniszweifels so dringend erforderlich ist.
1.5 Lieder, Lieder, nichts als Lieder
Die Musikstreaming-Portale bieten Songs an, nichts als Songs. Was im Detail sich auch immer hinter den Millionen Tracks an Musik verbirgt, drei Strophen Ännchen von Tharau gesungen vom Männerchor Remptendorf 1843 e.V., ein zwölfminütiges Instrumentalstück von Pink Floyd, ein halbstündiger Satz einer Brucknersymphonie, Regenplätschern zum Einschlafen im Auto repeat oder Luthers Aus tiefer Not schrei ich zu dir, alles firmiert als Song.
Songs sind eine überschaubare musikalische Einheit. Die Timeline markiert einen Anfang und ein Ende mit dem Gegenwartspunkt, der vom linken zum rechten Ende läuft. So sind Lieder. Sie haben einen Anfang und ein Ende, dazwischen drei, fünf, zwölf oder dreißig Minuten Musik. Die uniformierende Frechheit, alle Audios einer Datenbank einfach als Song zu labeln, bringt es an den Tag: Wenn eine Audiodatei startet, durchläuft und nach plus/ minus drei Minuten vorbei ist, dann wird es ein Lied gewesen sein.
Gegenproben: Vom Gottesreich wird der Schleier weggezogen und der Gesang der Engel hörbar (wie in Jesaja 6,3 oder Lukas 2,14, den zwei klassischen Bibelstellen der Engelsmusik) – fangen die Engel dort etwa erst nach Dirigenteneinsatz oder Mausklick an zu singen? Und ist die Timeline nach drei Minuten durchlaufen? Was für eine groteske Vorstellung. Sie haben schon immer und ewig gesungen und wir dürfen jetzt mal kurz reinhören. Bedauerlicherweise gibt der historisch-kritische Wortlaut das Singen ohne Unterlass an den beiden Stellen nicht ausdrücklich her, aber die kirchliche Tradition behauptet es durchweg und wird hier doch ausnahmsweise einmal recht haben. Die Sphärenharmonie – trällert sie, wenn sie denn laut den Pythagoreern wirklich Sound absondern sollte, ein Liedchen? Lächerlich. Als wäre der Weltenlauf in knapp fünf Minuten vorüber. Die Orakelpriesterin in Delphi oder Cumae – hat sie geweissagt, indem sie ein Lied sang? So ein Orakel hätte niemand ernst genommen. Die Priesterin war schon im Modus des Orakelns, bevor der Sterbliche die Grotte betrat, und sie blieb es noch, als er wieder draußen war.
Wieder einmal Luther hat es uns eingebrockt, dass die Gottesdienste musikalisch vollgestellt sind mit Liedern. Erst das Eingangslied, dann das Glorialied, dann das Wochenlied, dann ein Predigtlied, dann Lieder während des Abendmahls. Obendrein spielen der Posaunenchor und die Jugendband – Songs. Das Gesangbuch: nichts als Lieder, Hunderte davon. Strophe, Strophe, Refrain, Strophe, Refrain, Strophe, der Text bedarfsgerecht abgefüllt in Packungsgrößen von vier bis acht Zeilen, symmetrisch sortiert nach Reim und Metrum, so handlich ist die Urgewalt des Evangeliums bei Luther geworden.
Gehen wir in die Worship-Szene, scheint es beim ersten Hinhören ein paar Freiheitsgrade mehr zu geben. Die Strophen sind amorpher, das Kreiseln zwischen Strophe und Refrain uferloser. Die Hook kommt öfter und flashartig. Von der Unendlichkeit der Sphärenharmonie aber sind auch diese Songs weit weg. Nach sechs, sieben Minuten spätestens ist der Track abgelaufen. Die Musik und die Bühnenscheinwerfer stellt er gleich mit aus, sie sind in die Playersoftware integriert. Und nüchtern auf dem Papier betrachtet sind es die drei oder vier immer gleichen Textbausteine, die in einem Worship-Song scheinbar endlos zusammengesteckt werden, bis dann der Pastor langsam aus dem Off auf die Bühne tritt und signalisiert, jetzt bin ich dran. Ein Worship-Song ist und bleibt ein Song, die mosaikartige Kleinteiligkeit mag Unendlichkeit suggerieren, wie sie will.
Es wäre ungerecht zu behaupten, die Kirchenmusikgeschichte sei mit Liedern verstopft. Gewiss gibt es abendfüllende Oratorien, die nicht nur wiederum aus Songs bestehen wie die abendfüllenden christlichen Musicals. Aber sie sind an den sozialen und räumlichen Rand der Kirche gedrängt und stehen mit einem Bein im Verein und im Konzertsaal. Es gibt gewiss ausufernde Orgelfantasien, die mit einem Lied formal nichts zu tun haben, sofern sie nicht in der Fantastik doch einen cantus firmus verstecken. Aber auch sie stehen am Rand des Gottesdiensts. Mit einem Bein vor dem Gottesdienstbeginn und mit dem anderen nach dem Gottesdienstende bevölkern sie den Transitbereich zwischen Kirche und Außenwelt. Mittendrin stehen die Lieder. Fakt ist, in der Herzkammer der evangelischen Frömmigkeit gibt es Lieder, Lieder, nichts als Lieder.
Wieder einmal Luther also hat uns das eingebrockt, als er an die Stelle der Stücke der katholischen Messliturgie Lieder setzte. Bereits in der Formula missae et communionis von 1523 empfiehlt er, liturgische Stücke wie das Graduale, das Sanctus und das Agnus dei durch ein deutsches Lied mindestens zu ergänzen. Gesucht seien fähige Poeten, die entsprechende deutsche Texte liefern könnten. Dass neue Texte liedförmig sein und nichts mehr mit der Prosa der katholischen Liturgie zu tun haben würden, muss er nicht eigens dazusagen. Seine eigenen Gesänge, die er in der Deutschen Messe von 1526 dann vorschlägt, sind, wenig überraschend: Lieder.
Wir haben klar ins Auge zu fassen, welcher Paradigmenwechsel