Die 10 Todsünden der Schulpolitik. Heinz-Peter Meidinger

Die 10 Todsünden der Schulpolitik - Heinz-Peter Meidinger


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Expertise lediglich auf die persönliche, oft weit zurückliegende Schulzeit stützen kann. Ähnlich wie beim Fußball, wo es der Bundestrainer mit einer ganzen Nation von Besserwissern zu tun hat, hat auch zu Schulfragen fast jeder seine Meinung und vermeintliche Expertise. Gleichzeitig sind – noch eine Parallele zum Fußball – ständig jede Menge an Emotionen im Spiel. Jederzeit können alte Wunden, Demütigungen und Misserfolge der eigenen Schulzeit wieder aufbrechen, jederzeit kann die Fürsorge für das eigene Kind in harte Kritik und Aggression umschlagen. Bildungspolitik polarisiert, inhaltlich und emotional.

      Es ist unabdingbar, dass Schulpolitik demokratisch legitimiert ist und sich der öffentlichen Diskussion stellt. Mitreden, mitgestalten, politische Teilhabe – das gehört zum Wesenskern der Demokratie. Problematisch wird es, weil es so viele Mitspieler in der Schulpolitik gibt, deren Einfluss beträchtlich, aber eher verdeckt und unsichtbar erfolgt. Gemeint sind mächtige Lobbygruppen und Interessenverbände etwa aus der Wirtschaft, natürlich die Eltern- und Lehrerverbände – aber auch manche Bildungsstiftung verfolgt ihre eigene Agenda.

      2. Ein Bildungssystem ist ein hochkomplexes Gebilde, alles hängt mit allem zusammen, sowohl innerhalb des Schulsystems eines Landes als auch mit der Schulpolitik anderer Bundesländer. Darüber hinaus hat jeder Eingriff in die Schulstruktur, in die Gestaltung der Abschlüsse und in die Schulorganisation sofort wieder direkte und indirekte Auswirkungen auf andere Bereiche, etwa die Abnehmer von Schulabsolventen, das Beschäftigungssystem, die Wirtschaft oder etwa die Kommunen als Schulträger. Dafür nur ein Beispiel: Als vor rund 20 Jahren immer mehr Bundesländer die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr verkürzten, waren weder den Ministerpräsidenten noch den Schulpolitikern die Tragweite und die Folgewirkungen dieser Entscheidung bewusst. Ach, da gibt es doch so viel Leerlauf, da macht dieses eine Jahr kaum etwas aus, hörte ich oft. Oder man war der Auffassung, weil das G8 in den neuen Bundesländern zum Teil gut klappte, würde es auch in den alten funktionieren. Ein Musterbeispiel dafür, dass gerade im Schulbereich eine scheinbar einfache Übertragung von Strukturmodellen von A nach B scheitert, wenn man die unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht beachtet. Überrascht stellten die Landesregierungen daraufhin fest, was sie sich an Folgeproblemen eingehandelt hatten: Mittagskantinen wegen des verstärkten Nachmittagsunterrichts mussten gebaut werden, den Sportvereinen, den Kirchen und Jugendchören brach der Nachwuchs weg, duale Ausbildungswege dünnten aus, weil nun das Abitur schneller erreichbar war als die Gesellenprüfung, die Lehrpläne mussten auf Druck von Elternverbänden mehrfach überarbeitet, die Stundentafeln weiter reduziert werden, ohne dass die Akzeptanz für die überstürzt eingeführte Schulzeitverkürzung nennenswert stieg. Ein Musterbeispiel für eine Reform, die deshalb vielerorts scheiterte, weil der Blick für das Ganze fehlte.

      3. Erfolgreiche Schulpolitik braucht einen langen Atem und gute langfristige Konzepte. Damit passt sie in keiner Weise zu einem Regierungshandeln und in ein parlamentarisches Umfeld, deren politischer Zeit- und Planungshorizont in der Regel auf vier Jahre begrenzt ist. Auch gute Reformkonzepte zeigen ihre Wirkung erst über einen längeren Zeitraum. Das steht quer zu den Erwartungen einer Öffentlichkeit, die Erfolge am besten sofort oder schon nach ganz kurzer Zeit sehen will. Dieser hohe Erwartungsdruck verführt zu kurzatmigem Aktionismus und einer Alibipolitik, die zwar hohe Medienresonanz beschert, aber zur Verbesserung von Bildungschancen nichts beiträgt. Wenn Bildungspolitik diesem Erwartungsdruck in der Weise nachgibt, dass sie Versprechungen abgibt, die – jedenfalls auf absehbare Zeit – nicht oder nur teilweise erfüllt werden können, trägt sie ihren Teil zu einer zunehmenden Politikverdrossenheit bei. In manchen Parteizentralen herrscht die Auffassung, mit Bildungspolitik könne man keine Wahlen gewinnen, aber sehr wohl welche verlieren. Grund dafür sind Enttäuschung und Ärger weiter Teile der Bevölkerung über eine verfehlte Bildungspolitik und gebrochene Wahlversprechen!

      4. Eingriffe, Steuerungsmaßnahmen und Reformen zeigen im Bildungswesen ihre positiven oder auch negativen Auswirkungen erst in Jahren bzw. nicht selten erst nach Jahrzehnten. Nehmen wir Reformen in der Lehrerbildung. Zunächst dauert es Jahre, bis die entsprechenden Reformkonzepte an den Universitäten in den Studienordnungen und dem Lehrangebot umgesetzt sind, dann aber nochmals viele Jahre, bis die ersten Lehramtsabsolventen die neue Studienordnung durchlaufen haben, und sodann mehrere Jahrzehnte, bis eine Mehrheit der Lehrkräfte an Schulen entsprechend dieser Reform ausgebildet worden ist, sodass sich die erhofften positiven Effekte auch in der Praxis an den Schulen zeigen können. Fatal, wenn sich dann die einstige Reform als Flop erweist. Kollateralschäden von Bildungsreformen zeigen sich oft sehr spät und sind dann irreversibel. Ein starkes Argument dafür, gerade auf dem Feld der Schulpolitik bei Entscheidungen äußerst bedächtig, sensibel und vor allem auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse vorzugehen.

      Warum sind unsere Schulen bei Weitem nicht so optimal aufgestellt, wie man das von einer so selbstbewussten und wohlhabenden Kulturnation wie Deutschland erwarten würde und müsste? Dies hat Gründe und Ursachen, die nicht neu sind, aber leider auch nicht der Vergangenheit angehören. Wir haben es dabei mit tiefer liegenden Strukturmängeln, dauerhaften Versäumnissen, gescheiterten Reformen und groben Fehlsteuerungen der deutschen Bildungspolitik der letzten fünfzig Jahre zu tun.

      Es ist nicht das Ziel dieses Buches, den deutschen Schulen und dem deutschen Bildungswesen insgesamt ein miserables Zeugnis auszustellen. Nein – aus vielfältiger eigener Anschauung, meiner langjährigen Erfahrung als Schulleiter und auch aus Kenntnis der Schwächen ausländischer Bildungssysteme bin ich der festen Überzeugung, dass die deutschen Schulen besser sind als ihr Ruf. An deutschen Schulen wird tagtäglich tausendfach gute pädagogische Arbeit geleistet! Das liegt allerdings mehr am Engagement der Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und Schüler vor Ort und weniger an einer kongenialen Bildungspolitik. Von der Auffassung, unser Schulsystem sei verrottet und unreformierbar, oder gar vom Aufruf zur totalen Bildungsrevolution à la Richard David Precht halte ich wenig. Wer Dinge verändern will, tut sich keinen Gefallen, wenn er erst einmal alles schlecht redet und ein undifferenziertes Katastrophenszenario beschwört.

      Es wäre auch unredlich, die Schuld an fehlenden Problemlösungen einzig und allein der Politik zuzuschieben. Es gibt auch problematische Erwartungshaltungen in der Gesellschaft, denen Politik entsprechen will, anstatt diesen entgegenzutreten, und viel zu oft springen die verschiedenen Interessengruppen, auch die Lehrerverbände, über jedes Stöckchen, das hingehalten wird. Nicht jede Bildungsstudie muss kommentiert, nicht an jeder bildungspolitischen Pseudodebatte muss man sich beteiligen. Es geht eben nicht darum, mit dem Finger nur auf den anderen zu zeigen, sondern es bedarf gemeinsamer Kraftanstrengungen, um Schule in Deutschland besser zu machen.

      Unsere Schulen, unser Bildungssystem könnten viel besser dastehen. Wir verkaufen uns in Deutschland unter Wert.

      Und das hat auch damit zu tun, dass die meisten schulpolitischen Debatten und Auseinandersetzungen den eigentlichen Kern, das wesentliche Ziel von Schule verfehlen. Nämlich, wie wir es schaffen, dass am Ende ihrer Schulzeit selbst- und verantwortungsbewusste mündige junge Menschen unsere Bildungsinstitutionen verlassen. Schülerinnen und Schüler, die mit dem, was sie sich in der Schule an Wissen, Kompetenzen und Werthaltungen angeeignet haben, in der Lage sind, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, sich selbst zu verwirklichen, aber auch Verantwortung in dieser Gesellschaft zu übernehmen und einen Beitrag für eine menschlichere Welt und den Schutz unserer Lebensgrundlagen zu leisten.

      Um eine Bestandsaufnahme, was alles schief läuft beim Thema Bildung, wird man aber nicht herumkommen. Es geht nicht darum, „Sünder“ zu identifizieren, also etwa Landesregierungen, Parteien, Bildungspolitiker und oft selbst ernannte Bildungsexperten. Stattdessen müssen wir die schulpolitischen Sündenfälle und die dahinter stehenden Intentionen und Ziele in den Blick nehmen. Das ist die Grundvoraussetzung für eine Läuterung und bessere Schulpolitik.

      Ja, es handelt sich meiner Ansicht nach um Sünden – ja, ich meine, man könnte sogar von Todsünden sprechen. Klar, das ist eine der Theologie entlehnte Metapher. Aber es spricht einiges dafür, dass ein Rekurs auf die theologische Herkunft des Begriffs durchaus fruchtbar für unser Thema sein kann, wie man gleich sehen wird.

      Als niederbayerischer Katholik sei mir der Versuch gestattet, die Begrifflichkeit „Todsünden in der Bildungspolitik“ mit einem kleinen theologischen Exkurs zu rechtfertigen.

      Der Begriff der Todsünde


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