Der Schattendoktor. Adrian Plass
»Ihr Besuch hier war eine wunderbare, unerwartete Freude für mich«, sagte ich, »aber der morgige Tag kommt, und dann der Tag danach, und der nächste und immer so weiter, vielleicht noch jahrelang. Hunderte von morgigen Tagen. Die Leute leben heute ja so lange. Ich will so viele Tage nicht mehr. Ich will nicht jeden Morgen aufwachen und den Schmerz in mir spüren, noch bevor der Radiosprecher sich warmgeredet hat.«
Ich schaute entschuldigend zu Williams Bild hinüber. »Letzten Endes kommt von so einem Foto nicht viel zurück. Wenn ich es recht betrachte, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder bleibe ich da und leide, oder ich entscheide mich freiwillig, den Schritt in die Dunkelheit zu tun, wohin dieser Schritt mich auch immer bringen mag. Das hat nichts mit Neurosen zu tun. Ich leide nicht unter Depressionen und glaube, dass ich durchaus noch alle Hühner auf dem Balkon habe. Und ich habe meine pragmatische Entscheidung getroffen. Meinen Sie, es ist die richtige, Doc?«
Er nippte nachdenklich an seinem Kaffee, etwa so, als solle er sich zwischen Crunchy Nut Cornflakes und Kellogs entscheiden. Er sah so nett aus, wie er dort saß, Jack. Gute Kleidung, teuer, aber robust und haltbar. Eine dunkelbraune Hose aus einem Kordmaterial, ein dicker, dunkelbrauner Strickpullover, der vermutlich aus demselben Laden stammte wie sein grüner Mantel mit dem karierten Futter, der jetzt in meiner kleinen Diele am Haken hing. Die Schuhe, die er ausgezogen und auf der Fußmatte zurückgelassen hatte, als wir hereinkamen, waren mir schon vorher aufgefallen: Sie waren aus kräftigem braunem Leder, mit dicken Schnürsenkeln, mehr für den Gebrauch bestimmt als zur Zierde. Ich mochte seinen Stil.
Wie würde er jetzt auf meine Frage antworten? Eigentlich war es unfair. Was konnte der arme Mann schon sagen? Sollte er mir gute Ratschläge geben, ich möge meinen Blickwinkel weiten und mehr unter die Leute gehen? Therapie? Lebensberatung? Medikamente? Mich auf den Frühling und besseres Wetter freuen? Mich fragen, wie die Menschen, die mich liebten, mit der schrecklichen Nachricht von meinem Tod fertigwerden sollten? Das eine oder andere davon würde es sein, vermutete ich.
Doc steckte sich den Rest seines Schokosticks in den Mund und stellte seine Tasse und Untertasse vorsichtig auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel ab.
»Alice«, sagte er ernst, »ich glaube, Sie haben sich richtig entschieden.«
Warum legen wir eigentlich immer, wenn wir überrascht und verwirrt sind, unsere Köpfe schief und recken sie nach vorn? Peinlich, wenn man sich dabei ertappt. Ich muss ausgesehen haben wie eine aufgeschreckte Schildkröte.
»Entschuldigung, wollen Sie damit sagen, Sie sind der Meinung, dass ich mich umbringen sollte?«
Er drückte seine Ellbogen gegen die Rippen und hob und senkte seine Hände abwechselnd, als wöge er die Argumente ab.
»Von den beiden Möglichkeiten, die Sie erwähnt haben, würde ich jedenfalls auch diese wählen. Den Rest Ihres Lebens im Elend fristen oder einen einfachen Schritt tun, um allem ein Ende zu machen – nun, das ist nicht gerade ein Kopf-an-Kopf-Rennen, nicht wahr? Das ist meine Meinung.«
Daraufhin saßen wir ein Weilchen nur da, ohne etwas zu sagen. Ich hatte das Gefühl, das war kein gutes Ende. Kalt. Hatte er denn nicht eine einzige tröstliche Plattitüde für mich?
Doc brach das Schweigen.
»Allerdings, Alice, gibt es noch eine andere Alternative, an die Sie vielleicht noch gar nicht gedacht haben.«
Also doch. Erleichtert sog ich Luft durch die Nase ein und bereitete mich darauf vor, seinen Vorschlägen freundlich, aber ablehnend zu begegnen.
»Und die wäre?«
Pause.
»Scrabble.«
Es kam mir vor wie die Pointe eines unglaublich komischen Witzes. Ich brach in unbändiges Gelächter aus und konnte gar nicht wieder aufhören zu lachen, wie ich es nicht mehr getan hatte, seit William gestorben war. Eine nervöse Reaktion wohl zum Teil, aber es war noch mehr als das. In den Tränen der Heiterkeit, die mir an diesem Abend aus den Augen flossen, muss irgendein reinigender Wirkstoff gewesen sein. So fühlte es sich an. Manchmal sagen Leute, sie seien vor Lachen umgefallen, nicht wahr? Ich hing am Ende schief über der Armlehne meines Sessels und stopfte mir ein Taschentuch in den Mund, um mich irgendwie wieder unter Gewalt zu bekommen. Äußerst blamabel.
Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, entschuldigte ich mich, doch Doc lächelte nur und fragte: »Nun – was halten Sie von der Scrabble-Variante?«
»Tut mir leid, aber ich weiß nicht genau, wie Sie das meinen. Wollen Sie mir sagen, ich solle mich einem Scrabble-Verein anschließen oder so etwas?«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und seine Augenbrauen schossen vor Schreck in die Höhe.
»Grundgütiger, nein, Sie haben doch sowieso schon den Lebenswillen verloren. Warum alles noch schlimmer machen? Nein, ich will nur andeuten, dass Sie außer einem trostlosen Leben und der schmerzlosen Auslöschung auch noch die Wahlmöglichkeit haben, heute Abend mit mir eine Partie Scrabble zu spielen. Was halten Sie davon?«
Ich blickte nicht mehr durch, war aber seltsam fröhlich dabei. »Doc, was Sie da sagen, ergibt nicht den geringsten Sinn.«
»Na ja, einen Sinn vielleicht nicht, aber können wir trotzdem eine Runde Scrabble spielen? Ich liebe dieses Spiel. Allerdings muss ich Sie warnen. Ich bin unverschämt gut darin.«
»Ich auch. Na schön, dann spielen wir, aber wieso sind Sie so sicher, dass ich überhaupt ein Scrabble-Spiel dahabe? Oder dass ich Lust zum Spielen habe?«
»Kleinigkeit für einen genialen Detektiv wie mich. Ich sehe es ja dort in Ihrem Sekretär liegen. Andere Spiele liegen dort nicht; also vermute ich, dass Sie sich verkleinern mussten, als Sie hier eingezogen sind, und deshalb alle anderen Brettspiele, die Sie hatten, ausgemistet haben. Das Scrabble aber haben Sie behalten, weil Sie es so sehr mögen und hofften, es irgendwann wieder einmal spielen zu können.«
»Na gut, Sherlock, Sie holen das Spiel heraus, und ich räume den Tisch ab. Dann koche ich uns noch einen Kaffee. Aber warten Sie nur. Sie werden Ihr blaues Wunder erleben!«
Ach, lieber Jack, wie habe ich diese Partie Scrabble genossen! Mit einem warmherzigen, netten Mann mit etwas rauen Kanten zusammenzusitzen und ein Spiel zu spielen, das ich schon immer geliebt habe. Ein Leuchten ging von alldem aus. Und was mich begeisterte, oder eher erleichterte, war die Entdeckung, dass irgendwo in meinem Bauch immer noch die nötige Mechanik vorhanden war, um mich vor Lachen zu kugeln. Ich hatte gedacht, die wäre längst weg. Es war ein positiver Schock, dass ich sie immer noch hatte. Nicht etwa, dass ich es in diesem Moment ein Aufkeimen von Hoffnung genannt hätte, aber jetzt denke ich doch, dass es das vielleicht war.
Ich hätte das Scrabble-Spiel übrigens beinahe gewonnen. Darf ich Dich mit den Einzelheiten langweilen? Manchmal liege ich nachts wach und lasse mir den Weg, der mich zu meinem letzten Wort führte, noch einmal auf der Zunge zergehen. Ganz am Ende brauchte ich hunderteinundzwanzig Punkte, um zu gewinnen, und es sah hoffnungslos aus. Die sieben Buchstaben auf meinem Bänkchen waren f, k, a, l, r, t und noch ein a. Docs letztes Wort war »Gabe« gewesen und endete auf dem Feld gleich neben dem roten dreifachen Wortwert in der Mitte des rechen Brettrandes. Ich wusste, mit einem Wort, das ans Ende von »Gabe« passte, könnte ich ordentlich Punkte einheimsen. Große Chancen darauf rechnete ich mir bei meinem Sammelsurium von Buchstaben nicht aus, bis mir plötzlich auffiel, dass sich daraus das Wort »Fraktal« bilden ließ. Großartig!
Aber die Frage war: Konnte irgendeiner dieser Buchstaben zusammen mit »Gabe« ein neues Wort ergeben? Beinahe hätte ich es übersehen, dabei lag es so nahe. Das Wort war »Gabel«. Das war mein Verbindungswort! Ich bekam also siebenundzwanzig Punkte für »Gabel«, zweiundvierzig