Im Namen der Geschichte. Rudolf Burger

Im Namen der Geschichte - Rudolf Burger


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das Wühlen der Philosophen oder die Entmachtung des Adels seit dem Absolutismus des 17. Jahrhunderts? Und wie tief in die Zeit muß man zurückgehen, um den 1. September 1939 zu »erklären«? Bis zum 30. Jänner 1933, bis zum November 1918 oder bis zum Dreißigjährigen Krieg? Und warum erzählen wir uns diese Geschichten überhaupt – um etwas zu lernen, oder aus Pietät? Wir erzählen sie uns, weil wir gar nicht anders können, weil wir uns in der Welt zurechtfinden wollen, obwohl das, wie wir täglich von Neuem erfahren, ein vergebliches Bemühen ist. So betrügen wir uns selber, wie wir unsere Kinder betrügen, in durchaus guter Absicht. »Es war einmal … und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch«: Souverän verfügt der Erzähler über die Ereignisse, und indem er sie ausmalt in ihrer Pracht und ihrem Schrecken, distanziert er sie zugleich und macht ein Lehrstück daraus; beruhigt schlafen die Kinder ein und träumen von eigenen Heldentaten, auch wenn das, was sie hörten, voll Grauen war; es ist schließlich weit weg und lange her. Aber sie haben gelernt und werden es besser machen, das geht seit jeher so.

      Die Funktion der Geschichten ist immer die gleiche, seien sie erfunden oder Berichte von Realem, weil sie so oder so Literatur sind. Sie geben einer sinnlosen Welt eine Sinnstruktur und ordnen sie moralisch: So machen sie sie scheinbar vertraut. Sie greifen über die eigene Existenz hinaus und machen die Monaden solidarisch: So stiften sie eine Gemeinschaft. Sie geben dem Zufall eine Bedeutung und dem Tod einen Sinn: So nehmen sie ein wenig die Angst vor dem Sterben.

      All diese Funktionselemente, die, mehr oder minder verborgen oder verleugnet, auch in der modernen Geschichtsschreibung enthalten sind, liegen in den Mythen offen zutage. Jene frühen Erzählungen, die noch ohne Scham Literatur und Historie zugleich waren, begründeten Kulturen, verliehen ihnen Identität in Raum und Zeit, verknüpften sie mit einem Ursprung und tradierten einen Schuld/​Opfer-Zusammenhang, der ein Kollektiv formierte, in dem das Individuum seinen moralischen Platz fand. Abgeschirmt und teilweise entlastet von fiktionaler Literatur, doch deshalb nicht weniger wirksam, hat heute die »Geschichte« diese Aufgaben übernommen: Sie ist der Mythos der Moderne.

      Indem ich dieser »Geschichte« in skeptischem Geist einiges von ihrer epistemischen und moralischen Verbindlichkeit zu nehmen beabsichtige, werde ich mich auf ein vermintes Gebiet begeben – und Sie mit mir, wenn Sie meiner Einladung folgen und mich begleiten. Der Zorn der Gläubigen ist uns sicher. Die Geschichte, nicht diese oder jene Geschichte in ihrer empirischen Richtigkeit, sondern die Geschichte überhaupt in ihrer »ontologischen Würde« anzugreifen, die den Menschen Sinn, Halt und Stil gibt, heißt die Menschlichkeit selbst zu attackieren, heißt, sie in ihrem innersten Wesen in Frage zu stellen. Denn Menschen sind geschichtenerzählende Wesen, sie sind, wie Odo Marquard sagt, »mythenpflichtig«. Jedes Individuum, jede Gemeinschaft, jedes Kollektiv, jede kulturelle, jede politische Einheit, sei es eine Familie, ein Stamm, eine Ethnie, ein Volk, ein Staat, eine Staatengemeinschaft oder auch eine Klasse oder ein Stand, definiert sich über eine Geschichte, die er oder sie als die seine beansprucht, die ein Innen und ein Außen bestimmt und damit eine Identität schafft und die allein schon dadurch eine moralische Verpflichtung auferlegt. Glücklicher werden wir dadurch nicht, aber erst durch das historische Bewußtsein werden wir zu Menschen. Bis zu einem gewissen Grad, und auch das nur dann, wenn wir auch das historische Bewußtsein nur bis zu einem gewissen Grad entwickeln – das heißt, wenn wir es zwar einerseits in seiner Notwendigkeit und seiner Unausweichlichkeit zur Kenntnis nehmen, es aber andererseits reflexiv distanzieren, der Empfehlung Max Stirners folgend es nicht zu »unserer Sache« machen, es also so weit wie möglich entpathetisieren. Genau dies: die Entpathetisierung der Affekte, die Dämpfung der Leidenschaften, die »Metriopathie« durch Mobilisierung der inneren Widersprüche der Sache selber, ist die Pointe des Skeptizismus, in dessen Geist dieser Essay geschrieben ist. Er ist die überarbeitete und erweiterte Fassung einer »pyrrhonischen Skizze der historischen Vernunft«, die ich als Streitschrift zur Vergangenheitspolitik unter dem Titel »Kleine Geschichte der Vergangenheit« im Jahre 2004 bei Styria in die Debatte geworfen habe.

      Rudolf Burger, Juni 2007

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