Ideologie, Kultur, Rassismus. Stuart Hall

Ideologie, Kultur, Rassismus - Stuart  Hall


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Terrain der weiteren Arbeit von Marx sich radikal von dem im Manifest unterschied.

      So wichtig es ist, die Grenze zu markieren, die diejenige Phase des marxschen Denkens, die ihren definitiven Ausdruck im Manifest findet, von seiner späteren Entwicklung trennt, so wichtig ist es auch, uns an das zu erinnern, was wir nicht preisgeben dürfen. Es wird erkennbar, wenn wir das Manifest ein wenig aus seiner unmittelbaren Umgebung herauslösen und seine »Fortschritte« im, wie ich es auszudrücken versucht habe, »Licht des Kapitals« neu bedenken. Nehmen wir erstens die Erklärung, dass »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften (…) die Geschichte von Klassenkämpfen (ist)«; sie ist heute ein ebenso selbstverständlicher Bestandteil des Marxismus wie sie damals, als sie zum ersten Mal vorgebracht wurde, eine »aufsehenerregende These« war. Ohne sie ist der Marxismus undenkbar. Die Betonung liegt hier fast genauso stark auf »Klassen« wie auf »Kämpfe«. Die unmittelbar darauf folgende, knappe Entwicklung dieser These – Freier und Sklave, Feudalherr und Leibeigener, Bourgeois und Proletarier – ist ein absolut notwendiger Ausgangspunkt, wenn auch keine adäquate Darstellung der komplexen Klassenstrukturen der Produktionsweisen, auf die sie sich jeweils beziehen. Die Vorstellung, dass »die Menschen« zuerst biologische Individuen oder »nackte Individuen« der Marktgesellschaft sind und sich erst dann zu Klassen zusammenschließen – Klasse als eine sozusagen sekundäre Formation –, lässt sich durch diesen Text oder durch irgendeinen späteren Text von Marx nicht stützen. Dies deutet deshalb bereits auf die vielen späteren Passagen hin, in denen Marx den scheinbar natürlichen und selbstverständlichen Rekurs auf die »Individuen« als Basis einer Klassentheorie entthronte.

      Vom Standpunkt des Marxismus sind die Menschen stets durch das antagonistische Klassenverhältnis, in das sie hineingeworfen werden, präkonstituiert. Historisch gesehen sind sie nie in ihrer unergründlichen und einzigartigen Individualität, sondern stets durch das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« artikuliert – das heißt als Träger des Klassenverhältnisses. Diese vorangegangene Konstituierung bringt unter spezifischen Bedingungen als Resultat einen spezifischen Typ von Individualität hervor: das nach Besitz strebende Individuum der bürgerlichen politischen Theorie, das bedürftige Individuum der Marktgesellschaft, das Verträge schließende Individuum der Gesellschaft der »freien Arbeit«. Außerhalb dieser Verhältnisse kann das Individuum (dieser »Robinson Crusoe« der klassischen politischen Ökonomie, der selbstgenügsam in seiner Welt lebt, die nur vom Standpunkt »seiner« Bedürfnisse und Wünsche betrachtet wird), das der natürliche, enthistorisierte Ursprungsort der bürgerlichen Gesellschaft und Theorie bildete, in keiner Weise einen theoretischen Ausgangspunkt bilden. Es ist nichts als die »Zusammenfassung vieler Bestimmungen«. Die Geschichte seiner Produktion ist, wie Marx bemerkte, »in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer« (MEW 23, 743). Und weiter:

      »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen. Als ob einer sagen wollte: Vom Standpunkt der Gesellschaft aus existieren Sklaven und Citizens nicht: sind beide Menschen. Vielmehr sind sie das außer Gesellschaft. Sklave sein und Citizen sein, sind gesellschaftliche Bestimmungen, Beziehungen der Menschen A und B. Der Mensch A ist als solcher nicht Sklave, Sklave ist er in der und durch die Gesellschaft.« (Grundrisse, 176)

      »Wie alle seine Vorgänger, geht der kapitalistische Produktionsprozess unter bestimmten materiellen Bedingungen vor sich, die aber zugleich Träger bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sind, welche die Individuen im Prozess ihrer Lebensproduktion eingehen. Jene Bedingungen, wie diese Verhältnisse, sind einerseits Voraussetzungen, andererseits Resultat und Schöpfungen des kapitalistischen Produktionsprozesses; sie werden von ihm produziert und reproduziert.« (MEW 25, 827)

      Diese Formulierungen widersprechen allem, was sich als soziologischer »gesunder Menschenverstand« über Gesellschaftsklassen äußert – und ihre Kernaussage ist implizit bereits im Manifest vorhanden.

      Wichtig ist zweitens die Prämisse, die Marx selbst als springenden Punkt seines eigenen Beitrages sah (Marx an Weydemeyer, 5.3.1852, Marx/Engels 1972) und die Marx und Engels in ihrem gemeinsamen Vorwort zur deutschen Ausgabe des Manifestes von 1872 erneut bekräftigten:

      »(…), dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist« (ebd., 59).

      Die Produktionsbedingungen und -verhältnisse sowie ihre Spezifik in verschiedenen Phasen der widersprüchlichen Kapitalentwicklung bilden den grundlegenden und zentralen Rahmen der marxistischen Klassentheorie. Diese Prämisse unterscheidet den Marxismus als »wissenschaftliche« Theorie von allen vorangegangenen und folgenden Formen des utopischen Sozialismus. Von nun an war der Klassenkampf nicht mehr länger eine moralische Aussage über die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems, und die Zerstörung des Kapitalismus wurde nicht mehr länger als bloßes Wünschen und Hoffen von außen auf das System projiziert.

      So verstanden, produziert und reproduziert sich der Kapitalismus selbst als eine antagonistische Struktur von Klassenverhältnissen; er spaltet die »Bevölkerung« unerbittlich wieder und wieder in antagonistische Klassen. Man beachte aber gleichzeitig, dass es die Entwicklungsphasen in der Produktionsweise sind, die für eine marxistische Klassentheorie die notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Bedingungen bilden – es ist nicht »das Ökonomische« im handgreiflichen Sinne, das hier »determiniert«. Hier ist die marxsche Theorie absolut konsistent: von den ersten Formulierungen über die Deutsche Ideologie bis zum Schluss. Da aber die Herrschaft des gesunden, bürgerlichen Alltagsbewusstseins derart mächtig ist und derart hartnäckig immer wieder aufs neue bis ins Herz der marxistischen Theorie selbst vordringt, sollten wir diesen Punkt nochmals klarstellen: Es sind die materiellen und sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen ihre materiellen Existenzbedingungen produzieren und reproduzieren, die »determinierend« sind – wie, das bleibt zu klären. Die ungleiche Verteilung von ökonomischem Reichtum, Gütern und Macht, die die Grundlage für eine »sozio-ökonomische« Auffassung der »Gesellschaftsklassen« bildet, ist für Marx nicht die Basis, sondern das Resultat der vorausgegangenen Einteilung der Träger der kapitalistischen Produktion in Klassen und ihre Einordnung in Klassenverhältnisse sowie die vorangegangene Verteilung der Produktionsmittel zwischen »Eigentümern« und »Enteigneten«.

      Auch die Vereinfachung der Klassen, eine Grundthese des Manifestes, ist nicht ganz so simpel, wie sie aussieht. Das Argument, im Kapitalismus sei der Kampf Bourgeoisie versus Proletariat die grundlegende Form des Klassenkampfes, bedeutet nicht – wie manchmal gesagt wird –, dass im Manifest die Existenz anderer Klassen und Klassenfraktionen vernachlässigt wird. Tatsächlich findet sich ein summarisches Urteil über das revolutionäre Potential, zu dem unter anderem »die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer« ebenso wie »das Lumpenproletariat« gehören, von dem Marx niemals abweichen sollte. Was er sagt, ist, dass »von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, (…) nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse (ist)« (MEW 4, 472). Eine problematische Aussage, die weiterer Analyse bedarf.

      Marx gründet seine Aussage auf der objektiven Stellung des Proletariats innerhalb einer Produktionsweise, die auf der Enteignung der Produktionsmittel und der Ausbeutung seiner Arbeitskraft beruht. In diesem Sinne hat der Satz seine Gültigkeit: die revolutionäre Stellung des Proletariats ist durch seine Verortung in einer bestimmten Produktionsweise »gegeben« (spezifiziert). Damit aber lässt sich das Proletariat tendenziell als ein homogenes und undifferenziertes »Klassensubjekt« auffassen – ein Subjekt, das eine Rolle in der Geschichte spielt, aber selbst keine eigene, innere, widersprüchliche Geschichte hat, zumindest nicht in der kapitalistischen Epoche. Diese Prämisse, die von Marx später modifiziert wurde, muss von uns zurückgewiesen werden. Man kann diese Passage freilich auch noch anders lesen, so, als behaupte sie, dass, weil das Proletariat in der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Produktion eine objektiv revolutionäre Stellung einnimmt, es deshalb auch und immer empirisch ein revolutionäres politisches Bewusstsein und eine revolutionäre Form politischer Organisation aufweisen muss. Diesen weiteren »Schritt« machte Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein; und wo er anerkennen muss, dass dieses Proletariat sich »empirisch« nicht immer zu der ihm zugewiesenen Bewusstseinsform emporschwingt, behandelt er sie »abstrakt«, als sei sie ein


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