Gesang der Lerchen. Otto Sindram
nützt nicht viel, die Schaltung geht nicht mehr richtig. In diesem Laden funktioniert doch nichts. Vielleicht wird der Schalter ja repariert, wenn wir die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag haben.«
Nach den beiden Wahltagen wollten einige der Wahlhelfer eine Nachbereitung in der Klasse veranstalten. Seiter opferte dafür einen Teil seiner Physikstunde.
Wilfried als Klassensprecher bat Studiendirektor Reitmann dazu. Reitmann kam und setzte sich gleich.
»Ich kann es mir nicht leisten zu stehen, dazu war ich zu lange im KZ. Nun denn, worum geht’s?«
Wilfried begann damit, dass er zusammenfassend die Erfahrungen − wie er sagte − aller Wahlhelfer der Klasse referierte: Viele Hausgemeinschaften seien geschlossen im Wahllokal erschienen, und für sie hätten die Hauswarte die Stimmzettel in einem Block in die Urnen geworfen; kaum einer sei in die Wahlkabine gegangen. Den Wahlhelfern sei es untersagt worden, die Leute zum Aufsuchen der Kabinen anzuhalten. Als sich bei der Auszählung der Stimmen abzeichnete, dass die Nein-Stimmen überwiegen würden, kam die Anordnung, die Auszählung neu zu beginnen und alle Zettel, bei denen einzelne Kandidaten durchgestrichen oder die Zettel mit Bemerkungen versehen oder gar nicht ausgefüllt waren, als Ja-Stimmen zu zählen.
»Überhaupt«, sagte Wilfried, »die Wahlzettel ließen einem doch keine Wahl. Man konnte nur ein Kreuz in einem Kreis neben einem großen JA oder neben einem ganz klein gedruckten Nein machen. Wenn einem eine Partei oder eine Person nicht gefiel, hatte man keine Möglichkeit, das auch zu äußern. Ist doch klar, dass die Leute da einzelne Kandidaten durchstreichen oder den Zettel mit Bemerkungen versehen.«
Wilfried ereiferte sich. Auf einem Wahlzettel habe groß und gut leserlich der Satz gestanden: Euch Banditen wähle ich nicht. Der Helfer habe den Wahlzettel vorgezeigt und gemeint, das sei ja nun wohl eindeutig eine Ablehnung. Das sei richtig, habe da der Wahlleiter gemeint, es sei eine Ablehnung der westlichen Scheindemokratie, denn mit den Banditen können doch wohl nur die Kriegstreiber aus Westdeutschland gemeint sein. Oder sehe das etwa jemand anders?
Reitmann hörte sich den Bericht ruhig an.
»Sind Sie fertig?«, fragte er Wilfried, stand nun doch auf und ging herum. »Es ist gut und richtig, dass Sie Ihre Bauchschmerzen äußern. Als junge Menschen haben Sie ein starkes Rechtsempfinden, das ist gut so, das sollen Sie auch haben. Aber Ihre Vorstellung von Demokratie, die ist falsch, da liegen Sie schief, liebe Freunde. Hitler ist durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen, denken Sie mal darüber nach. Man muss aus der Geschichte lernen können. Glauben Sie denn, dass 1945 über Nacht das Gift der Nazi-Ideologie verschwunden ist?«
»Das Volk wird umerzogen«, warf Wilfried ein.
»Darum geht es nicht«, sagte Reitmann und setzte sich wieder. »Aber wir müssen die vorhandenen fortschrittlichen Kräfte bündeln für den Aufbau einer antifaschistischen demokratischen Gesellschaft − unter Führung der Arbeiterklasse.«
»Und die Arbeiterklasse wird geführt von der Partei?«, fragte Philipp.
»Richtig, von der Partei der Arbeiterklasse, der SED, in der die Besten der Arbeiterklasse die Führung haben«, nickte Reitmann.
»Halt jetzt die Schnauze!«, flüsterte Christian Philipp zu. »Wenn du dein Abitur machen willst, dann halt dich da raus!«
Philipp wusste selber, dass er den Gedanken, letztlich liefe also wieder alles auf einen Führer hinaus, nicht laut äußern durfte.
Reitmann redete weiter. Er sprach von der proletarischen Demokratie, zu der man reif sein müsse. In dieser Demokratie könne es nicht wie in einer bürgerlichen Demokratie vorkommen, dass das Volk seine eigenen Totengräber wähle. Und darum sei es richtig, dass die Wahlzettel von Menschen, die zur Demokratie noch nicht fähig seien, als Ja-Stimmen gezählt würden.
Seiter stand abseits und hörte zu. Als Reitmann geendet hatte und gegangen war, setzte er den Physikunterricht fort.
»Dann wollen wir uns wieder den irdischen Dingen zuwenden. Ich möchte mit Ihnen noch eine Aufgabe durchsprechen, bei der es um die Berechnung einer Tangentialebene an der Kugel geht, zu deutsch: Brett vor dem Kopf.«
8
Dr. Kuhnert war mit Leib und Seele Lehrer. Trotz seiner kurzen Beine und seiner Körperfülle wirkte er sehr lebendig, hatte lebhafte Augen und eine schnelle Sprechweise. Man glaubte ihm sofort, dass er noch schneller dachte als er zu sprechen vermochte. Es war eindrucksvoll zu sehen, wie er mit dem ganzen Körper und besonders mit seinen Händen zu dozieren verstand.
Ebenso aufregend war sein Chemieunterricht, der mit vielen Experimenten angereichert war. Als er hörte, dass Philipp ein ausgebildeter Chemielaborant war, bat er ihn, bei den Experimenten zu assistieren. Kuhnert wollte gerne, dass Philipp, in der ersten Reihe sitzend, jederzeit einspringen konnte, wenn ein Experiment es erforderte.
Neben Ruth saß Inge, die sofort bereit war, in der Chemiestunde mit Philipp die Plätze zu tauschen. Inge war keine Schönheit, sie sah krank aus, war mager und blass, hatte fettes, strähniges Haar und eine unreine Haut. Wenn sie ging, so glaubte man, sie müsste jeden Moment stolpern. Sie schob ihre rechte Schulter vor und bewegte sich, als drücke sie sich an einer Mauer entlang. Inge schwärmte für Christian und war erfreut, wenigstens zeitweilig an seiner Seite sitzen zu dürfen. Christian war weniger erfreut über seine neue Nachbarschaft.
»Ich mache keine Entjungferung«, sagte er zu Philipp.
Er respektierte Inge aber als eine gute, strebsame Schülerin, denn sie schrieb bis auf wenige Ausnahmen die besten Klassenarbeiten. Nur in Mathe hatte sie ihre Schwächen. Ordeich, der Mathe-Lehrer, gab ihr daher privaten Nachhilfeunterricht.
Ordeich war ein Lehrer, der glaubte die Welt mit den Gesetzen der Mathematik erklären zu können. Er war über fünfzig, groß, gebeugt, und er trug eine Brille, wie man sie von den Fotos des Revolutionärs Trotzki kennt. Mit seiner von einem Haarkranz eingefassten Glatze, seinen kleinen Augen, schmalen Lippen und gelben Zähnen machte er einen asketischen Eindruck. Neben seiner Disziplin ließ Ordeich nur noch den Kommunismus gelten, weil − wie er nicht aufhörte zu betonen − der Historische Materialismus sich zwangsläufig aus den Gesetzen der Mathematik ergäbe.
Eines Morgens stand ein Mann vor dem Gebäude der VA mit einem Schild in den Händen, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: Gott lebt! Darunter stand kleiner: Beweis: Die Zahl Pi ist endlich, nur Gott ist unendlich. Die Schüler wussten natürlich, dass die Zahl Pi, bekannt als die Ludolfsche Zahl zur Kreisberechnung, unendlich ist, und sie gingen lächelnd an dem seltsamen Demonstranten vorbei, ohne sonderlich Notiz von ihm zu nehmen.
Als der Mann, bekleidet mit einem weißen Gewand und Sandalen an den bloßen Füßen und mit seinem langen Bart einem Propheten gleichend, am folgenden Morgen wieder vor dem Gebäude stand, bat Ordeich ihn nach oben in den Klassenraum. Der Mann, dessen Alter schwer zu bestimmen war, betrat den Raum, grüßte freundlich nach allen Seiten, bedankte sich für die Aufnahme und setzte sich auf einen für ihn freigemachten Stuhl in die erste Reihe.
Und dann bewies Ordeich ihm und der Klasse mit wenigen mathematischen Gleichungen, dass Pi unendlich ist und es also in der Unendlichkeit der Welt keinen Platz für einen Gott gäbe. Der Mann stand auf, bedankte sich artig bei Ordeich und den Schülern und verließ den Klassenraum.
»Wehe uns Menschen, wehe uns!«, sagte er beim Hinausgehen.
»Solche Spinner wird es in einer kommunistischen Gesellschaft nicht mehr geben«, sagte Ordeich und begann mit dem Unterricht.
Auf dem Heimweg sprach Sophie Philipp auf den seltsamen Besucher an.
»Gibt es einen Gott?«
Philipp war erstaunt über ihre Frage.
»Ich weiß es nicht. Man sagt ja, an Gott kann man glauben oder nicht glauben. Einen Beweis gibt es nicht. Wieso fragst ausgerechnet du so etwas? Wo bleibt deine marxistische Wissenschaft?«
»Wenn es aber nun