Gesang der Lerchen. Otto Sindram
Länder ...«
»Ist dein Vater in der Partei?«, unterbrach Sophie ihn.
»Nein, aber ich habe einen Onkel, der war in der Partei.«
»War in der Partei?«
»Ja, in der NSDAP.«
»Stalin schreibt über die ...«, sagte sie mit ernstem Gesicht, ohne auf seinen Scherz einzugehen, machte eine Pause, und dann zu einem entgegenkommenden jungen Mann: »Freundschaft!«
»Wie, was hast du gerade gesagt?«, fragte Philipp erstaunt.
»Stalin schreibt über die revolutionäre ...«
»Nein, nein, was hast du gerade zu dem Burschen da gesagt?«
»Freundschaft!«
»Wie, was, Freundschaft, du sagst zu einem wildfremden Menschen so einfach Freundschaft?«
»Ja, natürlich, er hat ein FDJ-Abzeichen an. Wir grüßen uns so. Ich bin auch in der FDJ, Freie Deutsche Jugend.«
Sie berichtete, dass sie schon in der Sowjetunion bei den Pionieren und vor der Rückkehr nach Deutschland auch noch beim Komsomol war, der kommunistischen Jugendorganisation.
»Im vergangenen Jahr haben wir FDJler Uniformen bekommen und eine Fahne, blau mit aufgehender Sonne.«
»Und wenn es nun eine untergehende Sonne ist, wie willst du das unterscheiden?«
»Kann es sein, dass du unsere Sache nicht ernst nimmst?«
Später erzählte Philipp Christian von diesem Gespräch.
»Die ist völlig verkorkst«, sagte der, »da müsste sich mal jemand finden, der sie tüchtig bearbeitet. Wenn die etwas mehr vorzuweisen hätte, würde ich dir die Arbeit ja gerne abnehmen. Aber das wirst du wohl selber machen müssen.«
Sophies Mutter, Edda Dahlhaus, war eine geborene Franke und die Tochter einer bekannten, wohlhabenden Familie aus dem Berliner Westen. Ihre beiden Brüder waren im Ersten Weltkrieg gefallen. Vater Karl Franke war Direktor bei Borsig und aus einer Familie, die für ihre Pioniertaten auf dem Gebiet der Industrialisierung bekannt war. Luise Franke, Eddas Mutter, war eine geborene Porten und stammte aus einer Künstlerfamilie. Ihr Vater war Kunstmaler. Der Regisseur Franz Porten, Vater der aus Stummfilmen bekannten Schauspielerin Henny Porten, war ein Vetter ihres Vaters.
Nach ihrer Heirat mit Karl Franke war Luise klug genug, den Verkehr mit ihrer Künstlerfamilie auf das Notwendige zu beschränken. Die Sorge für ihren Mann sowie die Pflege und Erziehung ihrer drei Kinder füllten ihre Tage als Ehefrau und Mutter aus. Nach dem frühen Heldentod ihrer beiden Söhne aber war sie zu einer frommen Frau geworden, die sich neben der Fürsorge für ihre geliebte Tochter mit Kirchenbesuchen und mildtätigen Aufgaben beschäftigte. Karl Franke wollte seine Ruhe in der Familie haben und ließ sie gewähren. Edda genoss eine behütete Kindheit und eine gute Schulausbildung auf einem humanistischen Gymnasium. Als junges Mädchen wirkte sie mit ihren blaugrauen Augen und ihren weichen Zügen ein wenig verträumt. Ihr kurzes, dunkelblondes Haar und die Bubikopf-Frisur ließen ihr eher rundliches Gesicht noch runder wirken. Die hervortretenden Backenknochen gaben ihr dazu ein leicht slawisches Aussehen.
Schon früh entwickelte Edda einen besonderen Sinn für alles, was da blüht und krabbelt, sammelte Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge und auch sonst allerlei Getier. Als sie den Wunsch äußerte, Biologie studieren zu wollen, war die Familie nicht sehr überrascht. Ungewöhnlich war nur, dass sie als Frau eine Universität besuchen wollte. Das war in beiden Familien noch nicht vorgekommen. Aber seit das Kaiserreich zusammengebrochen und Deutschland eine Republik war mit dem Sattlergesellen Ebert an der Spitze, ja seit selbst der Präsident der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, Walter Rathenau, sich im Wirtschaftsrat mit Sozialdemokraten zusammensetzte, konnte Direktor Franke nichts mehr verwundern.
Edda ließ sich an der Universität Jena einschreiben. Sie wollte nicht in der Nähe des Elternhauses studieren, und Jena kam ihr in den Sinn, weil sie sich an einen Besuch dort als Kind mit ihrer Mutter im Botanischen Garten erinnerte − und weil sie für den Dichter Schiller schwärmte. Den Eltern war es nicht recht, dass ihre Tochter so fern von Berlin sein würde. Letztlich aber willigte der Vater doch ein und versprach auch einen monatlichen Wechsel mit einem großzügigen Betrag.
Edda studierte gerne, wenngleich sie mehr und mehr das Empfinden bekam, Eindringling in einem den Männern vorbehaltenen, ja ihnen gehörenden Lebensbereich zu sein. Als Ausgleich versuchte sie, sich einer der studentischen Vereinigungen anzuschließen. In den konservativen Verbindungen konnte sie als Frau nicht Mitglied werden, so blieb ihr nur die Freie Studentenschaft, die den Sozialdemokraten nahestand. Die auf den Versammlungen und Diskussionsabenden behandelten Themen waren ihr zuerst fremd, eröffneten ihr jedoch bald eine ganz neue Art zu denken. Sie versäumte keinen der Abende.
Nach einiger Zeit trat Edda der SPD bei und berichtete das auch den Eltern. Vater Franke tobte und wollte ihr den Wechsel sperren, ließ sich aber durch seine Frau davon überzeugen, dass das Ganze sicher nur eine jugendliche Dummheit und bald vorbei sei.
Eddas Briefe nach Hause wurden weniger; ihre Mutter musste immer öfter ein Lebenszeichen von ihrer Tochter anmahnen. Auch kam sie in den Semesterferien bald nur noch kurz und dann auch seltener heim. Einmal, Edda studierte nun schon das dritte Jahr in Jena, kam ein Brief, in dem sie ankündigte, dass sie in Kürze kommen und einen jungen Mann mitbringen werde. Sie habe einen Institutsassistenten kennen gelernt, wolle ihn den Eltern vorstellen und deren Segen zu ihrer Verlobung erbitten. Dr. Jonas Blumenthal, so der Name des Assistenten, sei ein fleißiger junger Mann, dem man eine große Karriere an der Universität voraussagte. Karl Franke war außer sich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein Jude in der Familie.
»Mir genügen schon die Juden in der Firma, da muss es nicht auch noch ein jüdischer Schwiegersohn sein. Das hast du nun von den jugendlichen Dummheiten, jetzt wirst du bald Bastarde als Enkel haben«, schimpfte er mit seiner Frau.
Er ahnte aber, dass mit Härte bei seiner Tochter nichts zu erreichen sein würde, beriet sich mit seiner Frau und stimmte zu, sie einen Brief nach Jena schreiben zu lassen.
Mein liebes Kind, schrieb Luise Franke, Vati und ich, wir freuen uns sehr auf Dein baldiges Kommen. Matilda hat gleich angefangen, Dein Zimmer herzurichten. »Ich werde ihr was Ordentliches kochen, Frau Direktor, das Mädelchen war beim letzten Besuch ja so dünn«, hat sie gesagt, die Gute. An den Gedanken, dass Du Dich verloben wirst, müssen wir uns erst gewöhnen. Für uns bist Du immer noch unsere Kleine. Ich kann es nicht glauben, dass Du schon zweiundzwanzig Jahre alt bist, vielleicht, weil ich immer noch Deine älteren Brüder sehe, die mit siebzehn und achtzehn Jahren sterben mussten. Und was ist aus unserem Vaterland geworden, für das sie gefallen sind! Jetzt bist Du unser ganzer Lebensinhalt, und wir machen uns natürlich Sorgen um Deine Zukunft. Glaube mir, Schatz, wir wollen nur Dein Glück. Muss es aber gleich ein Jude sein? Vati und ich haben nichts gegen Juden, Gott bewahre! Wir kennen ja selber einige, die sind ganz nett. Aber wir leben nun mal in einem christlichen Land, und wir sind eine christliche Familie. Ich möchte doch mal dabei sein, wenn meine Enkelkinder getauft werden und vielleicht − wenn ich es denn noch erlebe − wie sie zur Konfirmation gehen. Du willst doch sicher nicht, dass ich noch jiddische Lieder lernen muss, um die Kinder, an ihren Bettchen sitzend, in den Schlaf zu singen. Gell, Du überlegst es Dir nochmal? Vati lässt Dir ausrichten, dass er Dir unser Jugendstilhaus in Dahlem schenken will, wenn Du einen christlichen Ehemann haben wirst und dort wohnen möchtest. Du liebst das Haus doch so sehr. Er sagt, dass es kein Problem sein wird, die jetzigen Mieter rauszuklagen. Die Neueinrichtung übernimmt Vati auch. Schatz, ich bete, dass Du unsere große, vernünftige Tochter sein wirst.
Viele zärtliche Küsse von Mutti und von Vati
Als Edda diesen Brief erhielt, hatte Jonas Blumenthal sich schon wieder von ihr getrennt und war zu seiner früheren Freundin zurückgekehrt. Heimgesucht von den unterschiedlichsten Gefühlen, war Edda eine Zeit lang wie gelähmt. Dazu wurden die Schwierigkeiten für sie als Frau im Studium immer größer, so dass ihr die Freude an der Biologie verging. Gefangen in diesem Seelentief, traf sie Wilhelm Dahlhaus, einen Pädagogikstudenten,