Die Psychologie des bürgerlichen Individuums. Группа авторов

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Subjektivität – bei denen ihm noch mancher Fehler „unterläuft“ (vgl. die berüchtigten Definitionen des Nationalcharakters aus der Seele, die Ableitung von Herr und Knecht in der Phänomenologie aus dem Selbstbewusstsein u.a.) – den Übergang ausgerechnet zur bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Staat zu drechseln. Entsprechend sieht dieser Übergang dann auch aus: Damit vernünftige Subjekte ausgerechnet das Privateigentum als ihre Welt wollen, muss sich der freie Wille schon ziemlich abstrakt vorkommen und sich im ausschließenden Besitz die ihm gemäße „Sphäre seiner Freiheit“ geben, weil er sonst nicht Idee – Einheit von Begriff und Realität – wäre!

      Die Wahrheit ist auch hier der „auf die Füße gestellte Hegel“: Das bürgerliche Subjekt betätigt sich zwar als Seele, Bewusstsein und Intelligenz, geht aber dabei von gewaltsam geschaffenen und erhaltenen sozialen Verhältnissen aus, in denen es zurechtzukommen hat, und akkommodiert seinen Geist wie seine Taten den praktischen Beschränkungen, die sein Interesse mit seinen Gegenständen zugleich vorfindet. Es relativiert seinen Willen bezüglich der ihm aufgeherrschten Schranken – und diese Relativierung wird ihm so bewusst, dass es die Welt umgekehrt als verfügbares Material seines bereits kontrollierten Willens auffasst, dass es so und nur so seine individuelle Freiheit genießt: das Individuum anerkennt die bürgerlichen Verhältnisse in dem, was es darf. Es legt sich die ihm aufgehalsten Schwierigkeiten einfach so zurecht, dass es dem Gesichtspunkt anhängt, immerhin zu dem befugt zu sein, was nicht verboten ist.

      In den Urteilen über sich und die Welt, die der bürgerliche Verstand so zusammenbringt, können gewisse Unterschiede nicht ausbleiben; auch wenn das Prinzip für alle Individuen dasselbe ist, sind nämlich die Ergebnisse des um seine Durchsetzung bemühten freien, aber relativierten Willens je nach Klassenzugehörigkeit, also nach den Mitteln, die den Leuten zur Verfügung stehen, gar nicht gleich. Die simple Tatsache, dass manche allen Grund zur Zufriedenheit haben, andere nicht, führt zu einigen Differenzierungen im Bewusstsein von der Welt. Wo das Interesse und seine Beschränkungen den Gebrauch des Verstandes bestimmen, schlagen sich notwendig auch Erfolg und Misserfolg, Erwartung und Enttäuschung im individuellen Weltbild nieder – eine sehr bekannte Erscheinung, die aber den Anhängern der bürgerlichen Ordnung wenig Kopfzerbrechen bereitet. Sie gilt als normal: erstens ist das ja immerhin die Freiheit, die jeder hat, dass er eine eigene Meinung vertritt über die Weltenläufte, ob er nun deren Nutznießer oder Opfer ist; zweitens versteht es sich von selbst, dass ein Bewusstsein nie und nimmer objektiv sein kann, „da“ es ja ein individuelles (= von persönlichen Interessen geleitetes) ist...

      © 2018 Gegenstandpunkt Verlag

      § 2. Der Idealismus lohnender Selbstkontrolle

      Das bürgerliche Subjekt stellt sich auf die gesellschaftlichen Umstände ein, mögen sie auch voll von Herrschaft und Ausbeutung, Mord und Totschlag sein. Da ihm seine Interessen nicht prinzipiell bestritten werden, da seinem Materialismus zumindest bedingt entsprochen wird, würdigt es die Welt als ein Angebot an sich: sofern es sich auf sie einstellt und die eigenen Interessen in dem Rahmen verfolgt, in dem es darf, genießt es lauter Freiheiten.

      Weil die Unterwerfung unter die Regeln des Erlaubten, der konzessionierte Materialismus, aber keineswegs den Erfolg garantiert, handelt sich das Individuum manches Problem mit der Freiheit ein, die es schätzt. Es macht gute und schlechte Erfahrungen und gelangt so zu einer ziemlich geteilten Meinung über die Herrschaft, der es sich zu seinen eigenen Gunsten beugen will. Je nachdem, ob ihm die Durchsetzung des eigenen Interesses gelingt oder nicht, bringt es den Standpunkt des Erfolgs oder des Anstands zur Geltung – und sooft er bei anderen zur Überprüfung des persönlichen Fortkommens schreitet, entdeckt der bürgerliche Mensch die Erfüllung oder Verletzung eines der beiden Kriterien, über die er verfügt; und in gewissen Fällen entsprechen auch Anstand und Erfolg einander, oben wie unten in der gesellschaftlichen Hierarchie. Nicht selten aber erscheint dem Interesse, das sich ohne moralische Einkleidung nicht sehen lassen will, der Erfolg durch einen Mangel an Anstand erkauft; und umgekehrt entdeckt es, insbesondere bei sich, den Anstand als Grund für manche Zurücksetzung. Das moralische Subjekt lässt sich von seinen negativen Erfahrungen weder zur „umstandslosen“ Befürwortung noch zu einer „destruktiven Kritik“ der Herrschaft führen, die ihm seine Freiheit konzediert: es hält am Standpunkt der lohnenden Selbstkontrolle fest, sein Bewusstsein urteilt eben doppelt. Dem Maßstab materiellen Fortkommens fügt es den der Tugend hinzu; es reflektiert die beiden Kriterien ineinander und hält den Materialismus für ebenso erlaubt wie den Gehorsam für notwendig.

      Im Hin und Her seiner beiden Maßstäbe legt sich das bürgerliche Ich seine eigentümliche Stellung zur und seine Auffassung von Herrschaft zu: Sie besteht keineswegs in so handfesten Argumenten wie Kapital, Arbeit und Staatsgewalt, sondern in einer – ökonomisch und politisch „organisierten“ – Summe von guten und schlechten Gelegenheiten. Alle Zwänge der bürgerlichen Welt gelten ihm als – erlaubte – Wege zum Erfolg. Zwar ist in der Betrachtung und Handhabung der objektiven Verhältnisse als „Gelegenheit“, die man „ergreift“ oder „verpasst“, falls sie einem geboten wird, längst zurückgenommen, dass einem eine Flut von Mitteln zur Realisierung eigener Zwecke zu Diensten steht – aber eben so, dass in der Musterung der Lebensumstände nach Chancen, also durch die Logik der Möglichkeit, die positive Haltung zur Welt erhalten bleibt. Das moralische Individuum will sich in der bürgerlichen Gesellschaft bewähren; es kalkuliert über die Anerkennung ihrer Schranken seinen Erfolg und unterwirft das Resultat seiner Bemühungen wie das der Anstrengungen anderer Leute einer dauernden Deutung. Dabei gilt ihm kein Gegensatz als solcher, vielmehr ergeben sich lauter Unterschiede in bezug auf das individuelle Geschick in der Nutzung der vorhandenen Chancen. Einerseits bestätigt jeder Unterschied im Fortkommen einzelner Figuren die Auffassung, dass „es geht“, also tatsächlich Gelegenheiten geboten werden; andererseits fordert eben dieser Unterschied die moralische Überprüfung heraus, die Frage, ob sich die erfolgreichen Typen auch in derselben Weise betragen wie die minder zu Ansehen gelangten Bürger. Oder ob letztere sich nur den verdienten Lohn für mangelndes Wohlverhalten eingeheimst haben... usw.

      Der Entschluss, sich im eigenen Interesse zu unterwerfen, führt einerseits zur ständigen Widerlegung der berechnenden Dialektik von Anstand und Erfolg; doch sind die Anstrengungen eines solchen Ich überhaupt nicht geeignet, es zu erschüttern. Alle, die es weitergebracht haben als es selbst, sind für ein bürgerliches Individuum der Beleg dafür, dass einiges läuft – und es kann in seiner Überlegenheit gegenüber anderen, die schlechter gefahren sind, einiges an Trost und Bestätigung ausmachen. Im respektvollen bis devoten Verkehr mit den Bessergestellten leugnet das bürgerliche Subjekt die Objektivität der Klassengesellschaft ebenso wie in dem, was es sich gegenüber minder arrivierten „Mitmenschen“ herausnimmt.

      Aufgrund des nur sehr teilweise eintretenden Wohlbefindens schreitet ein anständiger Bürger aber auch zur Kritik des Vergleichs, in dem sich die Individuen seiner Meinung nach auszeichnen. Dazu verhilft ihm die Trennung und Kreuzung der beiden armseligen Maßstäbe, über die er verfügt: Nicht jeder Reiche ist anständig, was aber sowohl Vorwurf als auch Anerkennung der „Cleverness“ bedeuten kann; und mit dem Kompliment, einer sei ein guter Kerl, werden Trottel dingfest gemacht. Als Beglückwünschung der Gebeutelten zu ihrer Moral existiert das Kompliment zynisch – daneben gibt es die Verachtung von „Ellenbogenmenschen“. In tausend Varianten der Anerkennung aller möglichen Unterschiede, die einem nicht passen, zeichnet sich die Unvereinbarkeit der beiden Maßstäbe ab, so dass dem moralischen Individuum einiges zu tun bleibt, die Illusion zu leben, die sein Prinzip ausmacht: Wer die objektiven Schranken seiner Durchsetzung für nicht mehr existent hält, weil er sie zu einer Frage des subjektiven Umgangs mit ihnen erklärt, sie versubjektiviert


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