Emil aus der Drachenschlucht. Michael Kirchschlager
Professor Jakoble war eine pechschwarze Rabenkrähe mit einem schwarzen dicken
Schnabel und ebensolchen schwarzen Beinen. Verächtlich nannten die Menschen seine
Art auch Aaskrähe, aber darüber ärgerte er sich nicht sonderlich, denn er kannte die
Macken der Menschen. Zudem wusste er, dass die meisten von ihnen nicht allzu schlau
waren. Viele Jahre diente er einem Mönch als Gesprächspartner, und wenn der heilige
Mann rief: „Jakoble, bring mir mein Brillenglas“, dann wusste der kluge Vogel sofort,
was er zu tun und wo er zu suchen hatte. Der Mönch war zwar ein gelehrter Mann, aber
auch sehr vergesslich. Und so vergaβ er mehrmals am Tag, wo er sein Glas zuletzt hin-
gelegt hatte. Als der Mönch gestorben war, verlieβ Jakoble das Kloster und nahm das
Glas als Andenken mit. Es diente ihm zunächst als Spielzeug, mit dem man allerlei
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Kunststückchen vollführen konnte, aber eines Tages rutschte es quer auf seinen Schna-
bel und er war erstaunt, wie groβ man ganz kleine Dinge damit sehen konnte. Fortan
stülpte er es fast täglich über und beeindruckte seine Artgenossen nicht nur mit seinem
scharfen Verstand sondern auch mit seinem sprichwörtlich scharfen Blick. Und da sich
seine Bildung bei den Rabenvögeln bald herumsprach, verlieh ihm der groβe Corvus
den Titel Professor.
Mit der Brille vor den Augen stolzierte er nachdenklich vor dem Drachen hin und her.
„Kräh, kräh, dann wird es wohl das Beste sein, wenn ich Corvus ersuche, den Rat der
Rabenvögel einzuberufen. Wir müssen überlegen, kräh, kräh, was wir mit dir anstel-
len.“ Insgeheim dachte er, ein Drache von dieser geringen Gröβe kann schnell ein Op-
fer der Menschen werden.
Professor Jakoble verlieβ die Höhle und flog kurz Richtung Süden, wo er beim Einflug
in die Schlucht einen Eichelhäher gesehen hatte. Ihm erteilte er jetzt den Auftrag, Cor-
vus zu suchen und ihn in seinem Namen zu bitten, alle Raben des Rabenrates und des
Rabenvolkes hier in die Schlucht einzubestellen. Es gibt ganz wichtige Dinge zu be-
sprechen.
Die Brille fest auf dem Schnabel flog der Professor zu Emil zurück.
Binnen weniger Stunden waren die Bäume in der Schlucht überfüllt mit Raben und
Krähen, denn es hatte sich auch ohne die Nachricht des Eichelhähers herumgespro-
chen, dass hier mittlerweile ein Drache hauste und den wollten alle unbedingt sehen.
Der Rabenrat
Corvus, der gröβte und älteste aller Raben, saβ auf dem dicken Ast einer Buche. Er war
ein Kolkrabe und trug eine Augenklappe. Man erzählte sich bei den Schwarzgefieder-
ten, er soll sogar fünfzig Jahre oder gar noch älter sein. Wieder andere wussten zu be-
richten, dass er vom Geschlecht des Hugin abstammte, der neben Munin dem obersten
Wikingergott Odin diente. Sei es wie es sei, seit Corvus zum Oberhaupt aller Rabenvö-
gel gewählt worden war, herrschte Frieden zwischen ihnen. Sein Spruch „Eine Krähe
hackt der anderen kein Auge aus“ wurde zum ehernen Gesetz unter allen Krähenvö-
geln, egal welcher Art sie auch waren.
Missmutig beobachtete er mit seinem scharfen Auge das Geplapper und Gekrächze der
ganzen Schar, die gleich einer Armee arbeitsamer Ameisen auf dem Versammlungs-
platz hin und her liefen. Schlieβlich bereitete er dem Durcheinander ein abruptes Ende.
Doch lauschen wir den Raben selbst.
„Kraa, kraa“, krähte Corvus mit mächtiger Stimme, seinen Kopf bedeutsam in die Höhe
stoβend, „Rrrrrrrrruhe jetzt!“
Sofort wurde es still und die Raben, Krähen, Elstern und Dohlen flogen, ein jeder nach
Rang und Namen, auf einen kleinen, dünnen oder dicken, festen Ast. Die alten Raben
setzten sich auf höhere Äste, die jüngeren auf untere. Ganz oben, fast in der Spitze einer
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schlanken, hochgewachsenen Buche formierte sich der oberste Rat der Raben. Neben
Corvus nahmen die wichtigsten Ratsmitglieder Platz. Dazu zählten: Fräulein Schmü-
cker, eine überaus hübsche Elsterdame, die Goldringen und Perlenketten nicht wider-
stehen konnte; Vogelscheuchenzerrupfer, eine furchtlose, tollkühne Rabenkrähe, die
nicht einmal davor zurückschreckte Schäferhunden auf den Rücken zu fliegen und in
die Köpfe zu hacken und die Saatkrähe Körnerklau, ein ganz gerissener Vogel, der in
seiner Dreistigkeit eine ganze Schar Jungkrähen in eine Stadt der Menschen führte, wo
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