Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio. Anastasia Gilardi

Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio - Anastasia Gilardi


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Das Kreuz und das Pult – die perspektivisch verkürzt von hinten dargestellt werden – erlauben eine Einordnung des Bildes in die theatralischen Aufführungen der Heiligen Darstellungen.

       Die Heiligen Darstellungen

      Seit dem Mittelalter entstanden hauptsächlich im Mittelmeerraum verschiedene Heilige Darstellungen, die sich schnell nördlich der Alpen verbreiteten. Dabei werden die entscheidenden Episoden aus dem Leben Christi aufgeführt, wobei einerseits das Menschsein der Protagonisten ausdrucksvoll gezeigt wird, andererseits die religiöse Bedeutung der in den heiligen Texten erwähnten Geschehnisse. Besonders erfolgreich und traditionell waren die Darstellungen der letzten Tage Christi auf der Erde, also die Ereignisse in der Karwoche: Diese begangen oft mit der Fusswaschung und endeten mit der Auferstehung. Es gab unterschiedliche Varianten, je nach kultureller Offenheit und finanzieller Mittel der Orte, an denen sie aufgeführt wurden. In einigen Fällen hatten sie eine liturgische Komponente, als Abfolgen von Gesängen und Aufführungen, oder es handelte sich um Prozessionen. Diese unterstanden den kirchlichen Autoritäten. Andere wiederum entwickelten sich von den laude spirituali zu regelrechten Theatervorführungen mit oft volkstümlichem Charakter, die zumeist von den Bruderschaften oder einem religiösen Orden organisiert wurden. Dazu zählten im Mittelalter die Franziskaner, die ihrem Ordensgründer, dem Hl. Franziskus, nacheiferten, der in der Heiligen Nacht im Jahre 1223 in Greccio die erste Krippe aufstellte, eine 'lebendige' Darstellung der Episode aus dem Evangelium. Aus diesen Aufführungen entwickelten sich später die modernen Formen des Theaters, der Oper in der Musik und der Oratorien.

      Die ersten gesicherten Nachweise für die Prozessionen in Mendrisio gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Die erste eindeutige urkundliche Erwähnung bezieht sich auf die Gründonnerstagsprozession. Sie findet sich in einem Rechnungsbuch der Sakramentsbruderschaft, die für die Durchführung der Prozession verantwortlich war und betrifft die Ausgaben für den Kauf von Wachs und Öl zur Beleuchtung des nächtlichen Umzugs im Jahre 1697. Für sämtliche Aktivitäten in den Kirchen sind die Ausgaben für Wachs aufgeführt. Dieses verwendete man in Form von einzelnen, grossen und kleinen oder doppelten Kerzen, die man «Torchie» nannte, d. h. 'aufgewickelt'. Die Prozessionen wurden aber vermutlich schon ein Jahrhundert zuvor abgehalten, zumindest aber seit Mitte des 16. Jahrhunderts. In den Dokumenten sind auch vor Mitte des 19. Jahrhunderts keinerlei Pastorenbesuche verzeichnet, obwohl aus anderen Quellen bekannt ist, dass diese bereits vorher stattgefunden hatten. Das liegt vielleicht daran, dass man sie im Zuständigkeitsbereich der Bruderschaften und religiösen Orden sah: Der Servitenorden Marias (OSM) organisierte die Karfreitagsprozession, der Sakramentsorden die am Gründonnerstag. Leider existieren von der letztgenannten Bruderschaft keine Bücher vor Mitte des 16. Jahrhunderts in Mendrisio; auch die wenigen Male, in denen Sonderausgaben erwähnt sind, wird nur sehr selten der Grund für diese Ausgaben aufgeführt.

      Nur die Drucke, auf denen alte Fotografien zu sehen sind, liefern noch Einblicke in den nicht «beaufsichtigten» Brauch der Seitenschilder in den Toren, ohne Rücksichtnahme auf die chronologische Abfolge der dargestellten Episoden und der Beziehungen zwischen der Szene im Mittelteil und den Texten der Propheten auf den Seitenteilen. Nach dem Ausbau der Strasse kamen weitere Schilder hinzu, bis der von den Toren besetzte Platz gefüllt war.

      Andachtstafel mit dem Wappen der Brüder des Allerheiligsten Sakraments, 1889, aus der Kirche Santa Maria, heute in der Kirche San Giovanni.

       Die Gegenreform und die Bruderschaften

      Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fand auch in Mendrisio, das bis 1885 zur Diözese Como gehörte, eine allgemeine Neuordnung der geistlichen Strukturen statt, die mit einer Vereinheitlichung der lokalen Sitten und Gebräuche nach den Regeln der Gegenreform einherging. Dies war auch auf den kulturellen Einfluss von Karl Borromäus, dem Erzbischof der angrenzenden Diözese von Mailand, zurückzuführen. Der Klerus der Gegenreformation war besonders sensibel für die örtliche Lage, wurden doch die italienischsprachigen Vogteien bis 1798 von den zwölf Schweizerischen Kantonen verwaltet, die alle zwei Jahre einen Landvogt einsetzten, der oft der protestantischen Religion angehörte. In praktisch jeder Pfarrei förderte man die Gründung oder Neuausrichtung einer oder mehrerer Bruderschaften. Diese Vereinigungen wurden von gläubigen Laien geführt, die sich – häufig aus Reue – besonders zu wohltätigen oder religiösen Werken berufen fühlten, mit dem Ziel, den öffentlichen Kult zu fördern und zu verbreiten. In Mendrisio blieben drei dieser Strukturen bis ungefähr Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten: der Rosenkranzorden (vielleicht seit dem frühen 16. Jahrhundert), der Sakramentsorden (sicher seit 1518; 1585 übernahm er die Kirche Santa Maria nascente, in der noch heute die «Beerdigung» stattfindet) und der Orden der Heiligen Maria der Befreierin des Einsiedlers Hl. Nikolaus (seit 1606, der einzige heute noch in Mendrisio aktive Orden).

      Einige Jahre später, im Jahre 1712, findet man unter Ausgaben für Wachs die Karfreitagsprozession angegeben, die von den Klosterbrüdern von San Giovanni, die dem Servitenorden angehören, organisiert wurde. Seit diesem Datum findet man fast jedes Jahr Ausgaben und unterschiedliche Vermerke im Zusammenhang mit den Prozessionen, und zwar auch in anderen Büchern sowohl der Kirchen als auch der Gemeinde Mendrisio. Im Jahre 1769 ordnete der österreichische Kaiser Joseph II. die Schliessung mehrerer Klöster im nahe gelegenen Italien an und zwang einige Mönche, die aus der Schweiz stammten, zur Rückkehr in ihre Heimat: darunter auch Bruder Giuseppe Maria Baroffio vom Servitenorden, der viele Werke, viel Wissen und auch viel Geld nach Mendrisio brachte; dies war vermutlich der Grundstock für die Anfertigung der ersten Trasparenti im Jahre 1791. Mit der Auflösung des Sitzes dieses Ordens, dem Kloster San Giovanni, im Jahre 1852 ging auch ein Grossteil seines Archivs verloren.

      Seit der Gründung des neuen Kantons im Jahre 1803 übernahm die neue Gemeinde Mendrisio eine viel aktivere Rolle bei der Organisation der vorösterlichen Darbietungen; diese boten dem Ort die Gelegenheit, sich von anderen in der Nähe gelegenen Städtchen abzuheben, und schon damals zogen diese Prozessionen viele Zuschauer an. So liessen verschiedene Privatbürger sich neue Trasparenti anfertigen, um sie an ihren Häusern aufzuhängen. Seit 1836 leistete die Gemeinde nicht nur einen Beitrag zur Ausstattung der Werke, sondern beauftragte auch den aus Mendrisio stammenden Maler Augusto Catenazzi (1808-1880) mit der Anfertigung von 12 neuen Leuchten für den Corso Bello. Dem Tagebuch des Geistlichen Don Giuseppe Franchini entnehmen wir, dass er der edle Spender war. Schliesslich, im Jahre 1898, trat vielleicht erstmals offiziell eine Kommission zusammen, um die Veranstaltungen zur sogenannten «ersten Einhundertjahrfeier» der Neuorganisation der historischen Prozessionen einzuführen und zu organisieren. Man wählte dieses Datum, weil es das letzte Jahr war, in dem es in Mendrisio einen nicht namentlich bekannten Landvogt gab, der in dem einzigen existierenden, undatierten handschriftlichen Dokument, das die Paradeordnung der Karfreitagsprozession enthält, als Teilnehmer aufgeführt wird (siehe Abb. S. 16). Seit dieser Zeit werden die meisten Unterlagen dazu im Archiv der Institution aufbewahrt, die seit 2008 für die gesamte Organisation der Veranstaltung verantwortlich ist: die Stiftung Historische Prozessionen von Mendrisio mit Sitz in der alten Casa Maggi. Hier werden auch die meisten Trasparenti eingelagert und hier befindet sich die Werkstatt für die Restaurierung der heute noch gezeigten Trasparenti; die grössten und ältesten Trasparenti befinden sich in dem vom Kunstmuseum Mendrisio eingerichteten Lager und einige auch im Museo dei Trasparenti in der Casa Croci (siehe S. 43-44).

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