Der Bergfrauendoktor. Thomas Schmidt
die dicken Klopse wie von allein, da muss man sich gar nicht plagen.‘, denkt der blasse Vogel, rutscht aus mit seinen Plastiksandalen und stürzt in eine Schlucht.
Das Hinunter zerstört die Gelenke dauerhaft, außerdem ist es auch kurzfristig lebensgefährlich. Stürzel ist schon oft ausgerutscht und mitsamt Stuhl Abhänge hinunter geschlittert, in Bächen gelandet oder in Zäunen, auf einem Geröllfeld oder auch in einer Herde Schafe.
Ein Reh steckt den Kopf aus einem Busch. Ein Knacken, ein Fluchen. Das Reh duckt sich und verschwindet im Gehölz.
Im graugrünen Licht, zwischen Nebelschwaden, wankt eine Gestalt. Düster, grimmig. Der Stuhl wiegt schwer. Der Abstieg ist ein Stolpern, ein am finalen Todessturz vorbei von Taktik geprägtes Ausbalancieren der fleischlichen Hülle, eine Odyssee durch die kalten Windungen karger Berglandschaften. Gegen das dämmrige Licht der Sonne, die sich hinter einer schier unendlichen Wolkenfront versteckt, scheint es, als stapfe da ein Minotaurus über die schräge Anhöhe. Halb Mensch, halb Gynäkologenstuhl.
Aber es ist nur der Bergfrauendoktor. Jetzt hält er inne, wirft einen Blick über die Schulter als suche er etwas, aber er schaut nur nach einem kleinen schwarzen Fleck, der sich konzentriert an einem Zaunpfahl reibt – der Zaunpfahl neigt sich bereits.
Der Bergfrauendoktor muss täglich Abstriche machen. Auf mentaler wie auch beruflicher Ebene. Man sieht ihm das an. Von der Kopfspitze bis zum großen Zeh: Großbaustelle auf vermintem Gelände.
Frau Hofbauer kommt ihm bereits entgegen. Sie hat nur eine Bluse an und blaue Gummistiefel.
„Ausziehen muss ich mich ja ohnehin.“, sagt sie und zwinkert.
„Sie holen sich noch den Tod!“
Herr Hofbauer wartet in der Tür. Es ist ihm unangenehm, auch dass seine Frau untenrum nackt draußen rumturnt. Aber so ist sie. Sexuell hyperaktiv hoch Drei.
Etwas steckt zwischen Frau Hofbauers Oberschenkeln.
Der Stuhl ist schnell aufgebaut.
„Das ist Apfelwein.“, sagt Frau Hofbauer.
„War da noch Wein drin als …?“
Frau Hofbauer kichert. Sie hält sich die Hände vor die roten Wangen, rutscht auf dem Stuhl herum wie ein aufgeregtes Kleinkind.
Stürzel schaut durch das kleine Fenster nach draußen. Er sieht graue Wolken, die keine Form haben, Wolkenschlieren, die wie festgefroren über dem Dorf schweben. In seinem nächsten Leben möchte er eine Wolke sein, bewusstlos und dumm.
„Als die Flasche ausgelaufen ist, hat sich ein Vakuum gebildet.“, erklärt er. „Ich werde jetzt den Flaschenboden abschlagen.“
Er legt Frau Hofbauer ein paar Tücher über Körper und Gesicht. Von Herrn Hofbauer lässt er sich einen Hammer reichen.
Der Rest ist Bergfrauendoktorroutine.
Ein paar feste Schläge, das Becken der Patientin stößt zurück. Der Flaschenboden fällt in die Tiefe, ein Sturzbach Apfelwein schwappt hinterher.
Flüssig gewordene Erregung, Balsam für den Teufel.
Stürzel zieht langsam die Flasche heraus.
Plopp und Furz.
„Entschuldigung.“, sagt Frau Hofbauer. „Das letzte Wort hat immer meine ...“
„Passen Sie das nächste Mal besser auf.“, murmelt Stürzel und wirft seinen Kram in die Arzttasche.
Gedanklich befindet er sich bereits daheim in seinem knarrenden Bett, unter der Bettdecke. Rosa wird sich zu ihm gesellen und entweder die Bettkante missbrauchen oder sich schnurrend an ihm reiben. Seit Rosa ihm zugelaufen ist, verfasst Stürzel Katzengedichte. Seine Sammlung trägt den Titel: ‚Katzengedichte oder wie ich langsam zu einem irren Berggeist werde‘.
Alfred Stürzel wuchs als Sohn des Knopfindustriellen Fritz Stürzel und seiner repräsentativen Gattin Bertha Stürzel in finanziell sicheren und äußerlich höchst klinischen Verhältnissen auf. Die kleine Familie wohnte am Rande einer großen Stadt, durch deren Häuserschluchten unentwegt blecherne Schläge hallten. Aber alles endet, auch eine Stadt. Hinter dem akkurat gekämmten Garten, der groß war wie ein Fußballfeld, erstreckte sich eine grüne Landschaft: Ein Bach schlängelte sich durch Felder und Wiesen, weiter hinten streckten sich sanfte Busen dem blauen Himmel entgegen. Wenn Adi hinaus lief, war er ein weißer Fleck. Und als ebensolcher betrat er Stunden später das Haus wieder – er war schlau genug, sich die Erde, das zermahlene Gras, Insektenreste und Hundekot in dem kleinen Bach abzuwaschen.
Kätzchen, Kätzchen Kraule, Kraule Bist wie Wolle Meine Faule.
Seine Kindheit war blau. Blau wie der Himmel, unter dem er nach Maulwürfen grub oder Höhlen anlegte, in die er mit seiner Taschenlampe hineinleuchten konnte. Er untersuchte die Wände und pickte Schaben und Würmer heraus.
Blau wie die Schürze der Mutter, die wie ein flatternder Vogel durch die Zimmer jagte, auf der Suche nach Arbeit, die getan werden musste. Und war keine Arbeit da, wurde eine herangeschafft. Darin war seine Mutter gut.
Blau wie die Flecken, die ihm sein Vater vermachte.
Stürzel macht ein schreckliches Gesicht. Egal ob er träumt oder wach ist, alles ist gleich schlimm. Draußen sackt eine Nebelbank in die Tiefe. Von oben vernimmt er rhythmische Stöße: Rosa malträtiert das Klavier.
Jetzt – ein Stich im Nacken. Die Mühen fordern ihren Tribut. Stürzels Rücken ist ein alter Kran, die Knochen und Gelenke sind verrostete Streben, die unter einer pumpenden, roten Sonne verwittern.
Wie in Zeitlupe sieht er sich nun auf das schrillende Satellitentelefon zugehen, ganz langsam. Gäbe es einen Umweg, ganz grundsätzlich einen anderen Weg, alles würde er machen, dem Teufel die Sackhaare schneiden, solche Sachen, aber er kommt nicht aus. Die Bergrücken, die elenden schiefen Wiesen, die gewundenen Pfade. Ein stetes Abrutschen, aber nie ein sicheres Stürzen. Keine Schlucht, die ihn in sich aufnimmt, verschluckt.
Wir trafen uns im kleinen Park Ich fragte: Lust auf Mäusejagd? Sie reichte mir die Tatze Und fragte: Lust auf Katze?
Das Telefon schrillt nun seit zehn Minuten. Das ist sehr lang. Stürzel seufzt. Es ist ein beinahe endloses Seufzen.
‚Das Grauen ist Routine geworden.‘, sagt er zu sich selbst.
Er stolpert durch ein Leben, gegen das Hiob seines nicht tauschen würde.
„Stürzel hier. Was gibt’s, wo drückt der Schuh?“
„Herr Doktor … Es stirbt.“
„Herr Huber,“, sagt Stürzel, „es stirbt nicht.“
„Ich kann es nicht mehr fühlen. Da muss sich etwas entzündet haben. Vielleicht ein bisschen Salbe drauf …“
„Herr Huber, wie oft soll ich es Ihnen noch sagen. Ich behandle Sie nicht. Ich bin Bergfrauendoktor.“
„Was gegen das Jucken …“
Herr Huber leidet an einer gefestigten Weibsbildanomalie. Er redet sich ein, eine junge Lolita zu sein.
Eines Tages war Huber aufgewacht und seine Lust auf Frauen war wie verschluckt. Noch besser: Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, selbst Frau zu sein und als solche begehrt.
Ob er den Roman gelesen habe, wollte Stürzel einmal wissen – aber der Huber kann gar nicht lesen. Zumindest keine Bücher. Den Himmel, den ja, da weiß der Huber immer wo es herkommt, das verfluchte Sauwetter. Nämlich von Grönland.