Der verdrängte Skandal. Frank Heinrich

Der verdrängte Skandal - Frank Heinrich


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schwarze Sneakers und eine schwarze, kurze Kunstlederjacke. Sie könnte eine ganz normale junge Frau sein. Doch es ist Mittwochabend, 22 Uhr, auf dem Berliner Straßenstrich. Sie steht hier und wartet. Ihr langes, schwarzes Haar fällt über die zierlichen Schultern und umrahmt ihr schmales Gesicht. Die großen, dunklen Augen schauen traurig in die Nacht. Ilana ist eine Romni aus einer großen bulgarischen Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie ist eine von vielen Töchtern Bulgariens, die ihren Körper hier, auf den Straßen der deutschen Hauptstadt, zum Verkauf anbietet, in der Hoffnung, mit dem bisschen Geld sich und der Familie ein besseres Leben ermöglichen zu können.

      Jetzt hat sie uns erblickt, und ihr Gesicht hellt sich auf. Hastig drückt sie die Zigarette aus und wirft den Stummel in die Ecke. Mit einem freudigen Lächeln und offenen Armen werden wir begrüßt und erst einmal fest umarmt. Wenn man darüber nachdenkt, was diese Frauen auf der Straße für ein Leben führen, was sie schon alles erlebt und eingesteckt haben, dann erstaunt es immer wieder, wie sie so fröhlich lachen und so herzlich sein können. Seit zwei Jahren kennen wir Ilana und haben in der Zeit stückchenweise ihre Geschichte erzählt bekommen. Es hat über ein Jahr gedauert, bis sie langsam anfing, sich zu öffnen und Vertrauen zu fassen.

      Im Wartezimmer des Gesundheitsamtes, während wir auf ihre Untersuchung bei der Frauenärztin warten, fängt sie das erste Mal an zu erzählen. Da sei was nicht in Ordnung in ihrem Bauch, in ihrer Gebärmutter. Vor zwei Jahren hätte sie eine Abtreibung gehabt. Sie sei dafür in Polen gewesen, und es sei nicht ordentlich gemacht worden. Jetzt hätte sie Angst, dass sie deswegen keine Kinder bekommen könne. Dabei ist alles, was sie sich wünscht, ein normales Leben: ein normaler Job, eine normale Beziehung und irgendwann Kinder. Die Angst vor Krankheiten, die Angst, dass ihr Job alles kaputtmachen könnte, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Immer wieder greift sie nervös nach meiner Hand und drückt sie ängstlich. Sie will raus: raus aus der Prostitution, raus aus dem Leben, das sie führt und das sie kaputtmacht. Die Ärztin kann nichts Schwerwiegendes finden, und doch halte ich am Ende eine bitter weinende Ilana in den Armen. Sie ist erschöpft und sieht keinen Weg aus ihrer Situation heraus. Von dem Tag an dürfen wir sie an der Hand nehmen und ihr Schritt für Schritt zeigen, dass es eine Zukunft für sie geben kann.

      Einige Tage später, im Wartesaal des Jobcenters, erzählt sie weiter. Sie erzählt von ihrem Vater, der trinkt und ihre Mutter schlägt und misshandelt.

      „Er ist ein Idiot“, meint sie in klarem Deutsch.

      Als Mädchen war ihr die Schule vom Vater verwehrt geblieben. Erst mit 14 besuchte sie für zwei Jahre eine Internatsschule. Sie würde so gerne zur Schule gehen und richtig Deutsch lernen, erzählt sie mir mit strahlenden Augen.

       Sie würde so gerne zur Schule gehen und richtig Deutsch lernen.

      Schlau ist sie auf jeden Fall, denn ihr Deutsch, welches sie in den zwei Jahren auf der Straße gelernt hat, ist fließend und gut verständlich. Wo ihr Vater heute ist, wurde nicht klar aus ihrer Erzählung. Die Mutter kämpft alleine um ihr Überleben und das von den drei Brüdern. Von ihrem mageren Verdienst auf der Straße schickt sie so viel wie möglich an die Mutter in Bulgarien. Diese weiß offiziell nicht, was ihre Tochter in Deutschland genau macht.

      Als Ilana ungefähr 18 war, verkaufte sie ihr Onkel als Frau an einen deutlich älteren Mann. Dieser reichte sie seinem Sohn Milo weiter. An dieser Stelle wird ihre Erzählung sehr hastig und undeutlich. Ich verstehe nur noch brockenweise, was in den Jahren nach dem Internat alles geschah. Klar ist, dass sehr viel Gewalt im Spiel war. Sie wurde gegen ihren Willen in diese Beziehung gezwungen und gegen ihren Willen in die Prostitution geschickt. Irgendwann kam sie zusammen mit Milo nach Deutschland. Er scheint ihr in diesen Jahren Schutz geboten zu haben, und sie fühlte sich ihm gegenüber verpflichtet. Er ist nicht gewalttätig. Jedoch spricht er im Vergleich zu ihr nach drei Jahren kaum drei Worte Deutsch und hat auch nie hier gearbeitet, sondern profitiert von ihrem Einkommen. Zusammen wohnen sie in einem Hotelzimmer, das ihnen von einem türkischen Bekannten für den „Freundschaftspreis“ von 50 € die Nacht vermietet wird. Dieses Geld muss Ilana jeden Abend erst mal anschaffen. „Das macht mich kaputt“, stammelt sie immer wieder.

      Wir tun, was wir können, um ihr auf dem Weg in ein anderes Leben beizustehen und zu helfen. Nacht für Nacht steht sie aber wieder auf der Straße, um das Geld zu verdienen. Sie versucht sich als Zimmermädchen im Hotel, doch ihr zierlicher Körper ist zu schwach für die anstrengende Arbeit. Später finden wir einen Restaurantbesitzer, der ihr eine Chance geben will und sie aufnimmt. Sie blüht auf und freut sich wie ein Kind über den „normalen“ Job als Küchenhilfe. „Ich habe Kartoffeln geschält und geschnitten“, erzählt sie begeistert. Doch die Schwierigkeiten dauern an. Milo ist immer noch da, und sie verliert langsam das Vertrauen in ihn. Sie kriegt das Geld für das Hotel nicht mehr zusammen und beginnt sich zu verschulden. Und dann wird sie auch noch krank. Wochenlang hustet sie, ist geschwächt und macht trotzdem weiter. Immer wieder steht sie nachts auf der Straße, weil das Geld fehlt. Wir erzählen ihr vom Frauenhaus, doch sie kann sich nicht dazu durchringen. Sie ist gefangen, fühlt sich verpflichtet, für ihre Familie zu sorgen.

      Auch wenn sie langsam anfängt zu verstehen, dass Milo es nicht gut mit ihr meint, findet sie nicht den Mut, ihn zu verlassen. Wir bereiten uns ein zweites Mal darauf vor, sie ins Frauenhaus zu bringen. Stattdessen steigt sie mit ihm in den Bus nach Bulgarien. Seit sechs Jahren hat sie ihre Familie nicht mehr gesehen. Wann und ob sie zurückkommt, wissen wir nicht.

      Bei der letzten Begegnung auf der Straße erzählt sie uns, dass sie immer wieder an uns denkt und an all das, was wir ihr erzählt haben. Zwei Jahre lang sind wir ihr immer wieder in Liebe begegnet und haben Wahrheit in ihr Leben gesprochen. Und Ilana hat die Wahrheit erkannt. Sie hat verstanden, dass Gott mit ihr ist und sie beschützt. Sie sieht uns als Gottes Boten, um ihr zu zeigen, dass es mehr im Leben gibt. Ob sie irgendwann den letzten Schritt wagt in ein ungewisses Leben in Freiheit?

      Andrea Kern / ​Alabaster Jar

      „Und wenn es deine Schwester wäre?“ Diese provozierende Frage steht auf dem Info-Flyer von „Gemeinsam gegen Menschenhandel“. Absurd? Weit weg? Ist Menschenhandel ein Problem nur in Asien oder Osteuropa? Das war einmal.

      Die bittere Realität ist: Menschenhandel geschieht mitten in unserer Gesellschaft. Und das ist nicht nur die subjektiv gefärbte Meinung einiger Sozialarbeiterinnen aus dem Rotlicht-Milieu. Längst bestätigen mehrere seriöse Studien: „Deutschland ist ein Herkunfts-, Transit- und Zielland für Menschenhandel mit Frauen, Kindern und Männern zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung.“ (TIP-Report: Bericht des US Department of State über „Trafficking in Persons“, 2014).

      Und wenn nun Deutschland eine solche „Drehscheibe des Menschenhandels“ geworden ist, wie verschiedene Journalisten es bezeichnen, dann muss es uns etwas angehen.

      Der TIP-Report liefert Daten. Bei diesen Zahlen wird allerdings ein großes Dilemma deutlich: Zwischen identifizierten und tatsächlichen Opfern besteht eine erhebliche Lücke: Obwohl weltweit „nur“ etwa 46.000 Opfer von Menschenhandel im Jahr 2012 offiziell identifiziert wurden, schätzt der Global Slavery Index, dass 2016 insgesamt 46 Millionen Menschen als Sklaven leben (Arbeitssklaven und Zwangsprostituierte). Die Europäische Kommission stellt fest: 80 Prozent von ihnen sind Mädchen, 20 Prozent Kinder.

      Auch wenn die tatsächliche Opferzahl nur geschätzt werden kann, wird deutlich: Beim Thema Menschenhandel geht es nicht um eine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern um ein gravierendes globales, europäisches – und deutsches! – Problem. 46 Millionen Menschen weltweit müssen ihr Dasein als Sklaven fristen, das entspricht ziemlich genau der Einwohnerzahl von Kenia oder der Zahl aller Australier und Rumänen zusammengenommen.

      Woran liegt es dann aber, dass nur ein Bruchteil der „Fälle“ offiziell registriert sind, und es kaum möglich ist, valide und verlässliche Daten über die tatsächlichen


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