Das Elend des Kulturalismus. Rudolf Burger
wie Schelling verächtlich sagte, stehen gegen das »wahre Wissen« und die »Philosophie«.
Dieser Topos hält sich durch von Friedrich Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« aus dem Jahre 1795 bis zu Friedrich Nietzsches Vorträgen »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten« von 1872. Als der Gewährsmann und Repräsentant des neuhumanistischen Bildungsideals aber gilt nicht Schiller, und schon gar nicht Nietzsche, der in späteren Jahren ganz andere Positionen vertreten hat als der damals neuberufene 27jährige Altphilologe, sondern Wilhelm v. Humboldt, und zwar sowohl inhaltlich als auch und vor allem bildungspolitisch. Wie kein anderer verkörpert er eine ganz bestimmte bildungspolitische Tradition, ja sein Name wurde geradezu zur Kampfparole in hochschulpolitischen Auseinandersetzungen. Zwar wird man bei ihm die später notorisch werdende Abwertung der Berufsausbildung – der »speziellen Bildung«, wie es bei ihm heißt – zugunsten der »allgemeinen Bildung« nicht finden, aber das persönlichkeitsveredelnde Ideal schöner Innerlichkeit, die sich harmonisch in entfremdende Verhältnisse fügt und diese verklärt, bestimmt ab ovo sein pädagogisches Programm. So schreibt er schon in seiner fundamentalen »Theorie der Bildung des Menschen« von 1794/95: »Hier kommt es nun darauf an, daß der Mensch in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Inneres zurückstrahle.« Und in einer späten Schrift vom Beginn der 1830er Jahre heißt es: »Die Zivilisation ist die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung. Die Cultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten Geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt.« Als »Bildung« in einem emphatischen Sinn kann daher nur gelten, was der erbaulichen Selbststeigerung der Persönlichkeit dient. Das Studium der alten Sprachen, der klassischen Literatur und Kunst, überwölbt von idealistischer Philosophie, schafft das »Gut« dieser Bildung, die die Persönlichkeit formt, weil dem Neuhumanismus ein ästhetisch idealisiertes Griechenland als der historische Ort geglückter Bildung erscheint: Die Griechen gelten dieser Pädagogik als Verkörperung des »wahren Menschentums«, und das Studium des klassischen Altertums stellt daher das Muster aller wahren Bildung dar. So wurde das humanistische Gymnasium zum Gral des Bildungsbürgertums. (Wie sehr dieses Muster allerdings literarisch-ästhetisch verzerrt ist, wird schon daraus ersichtlich, daß etwa für Platon selbst nicht der Mythos und die Tragödie, sondern die Mathematik das Erkenntnisideal darstellte – er verbannte die Dichter als Lügner aus seinem Idealstaat, und eine Inschrift über der Akademie versagte jedem den Zutritt, der keine mathematischen Kenntnisse besaß: Die Griechen der klassischen Zeit, und erst recht der Archaik, waren gerade keine »Humanisten«!)
II.
In seiner Studie »Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform« charakterisiert Panayotis Kondylis die Denkformen des liberalen Bürgertums des 19. Jahrhunderts, die allen seinen geistigen Äußerungen gemeinsam sind, als synthetisch-harmonisierend, um sie von den analytisch-kombinatorischen Denkfiguren, die für unser massendemokratisches Zeitalter charakteristisch sind, kontrastierend abzusetzen. Bürgerliches Denken, sagt Kondylis, war grundsätzlich bestrebt, das Weltbild aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Dingen und Kräften zu konstruieren, die zwar, isoliert betrachtet, sich im Gegensatz zueinander befinden können, doch in ihrer Gesamtheit ein harmonisches und gesetzmäßiges Ganzes bilden, innerhalb dessen Friktionen oder Konflikte im Sinne übergeordneter Zwecke aufgehoben werden. Der Teil existiert innerhalb des Ganzen, und er findet seine Bestimmung, indem er zur harmonischen Vollkommenheit des Ganzen beiträgt, nicht aber durch Verleugnung, sondern durch Entfaltung der eigenen Individualität. Insofern werden die Dinge zwar von ihrer Funktion her gedacht, ihre Substanz geht dabei aber nicht verloren, auch wenn diese nicht oder nicht ganz erkannt werden kann; und eben die Annahme von der Substantialität der Dinge gestattet ihre objektive Bewertung und ihre Einordnung in diese oder jene Stufe des harmonischen Ganzen. Wesentlich anders verhält es sich bei den analytisch-kombinatorischen Denkfiguren. Hier gibt es keine Substanzen und keine festen Dinge, nur letzte Bestandteile, Elemente, die durch konsequente Analyse ermittelt werden und deren Wesen und Existenz eigentlich nur in ihrer Funktion besteht, zusammen mit anderen Elementen immer neue Kombinationen einzugehen. Daher kann hier von Harmonie, die auf mehr oder weniger festen Beziehungen zwischen Teilen und Ganzem beruht, nicht die Rede sein; es kommen nur Kombinationen vor, die ständig durch neue und prinzipiell gleichwertige ersetzt werden. Alles kann und darf im Prinzip mit allem kombiniert werden, denn alles befindet sich auf derselben Ebene, und es gibt keinen ontologischen Hintergrund, der den Vorrang bestimmter Kombinationen vor anderen sicherstellen würde.
Es ist klar, daß beide Denkweisen – die synthetisch-harmonisierende und die analytisch-kombinatorische – zu jeder Zeit bei verschiedenen Denkern, sozialen Klassen und intellektuellen Feldern, in Kunst, Philosophie und Wissenschaft, miteinander koexistent sein können; aber es ist ebenso klar, daß jeweils nur eine der beiden zu ihrer Zeit hegemonial sein kann. (So war z. B. die resolutiv-kompositorische Methode des Materialisten Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert eine ausgesprochene Minderheitenposition.) Und klar ist vor allem auch, daß das humanistische Bildungsideal des liberalen Bürgertums in geradezu idealtypischer und konzentrierter Weise die synthetisch-harmonisierende Denkweise verkörperte und daß jenes Ideal daher im gleichen Augenblick in die Krise kommen mußte, als diese Denkweise ihre gesellschaftlich hegemoniale Stellung mit dem atemberaubenden Fortschritt der exakten Naturwissenschaften, der Industrialisierung der Produktion und dem Heraufkommen einer postliberalen Massengesellschaft an die analytisch-kombinatorische Denkweise abgeben mußte.
Angesichts dieser Entwicklung erscheint die normativ idealisierende Wiederbelebung und pädagogische Indoktrinierung antiker Kultur- und Denkformen, die sich einem letzten Endes noch mystisch-religiösen Naturverhältnis und einer noch schroffen Standesgesellschaft verdanken, als durchaus fragwürdige Poetisierung der »Prosa der modernen Welt«. (Hegel), die ihr in ihren geistigen Repräsentanten Glanz und Würde verschaffen sollte; die humanistische Bildungsmaskerade wurde jedoch in dem Maße überflüssig und störend, ja sogar peinlich, als die industrielle Moderne ihr eigenes Selbstbewußtsein, ihre eigene wissenschaftliche Sprache und ihren eigenen geschichtlichen Stil fand.
Mit der Ausdifferenzierung einzelner naturwissenschaftlicher, technischer, sozialwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Disziplinen, die je eigenen Logiken gehorchen, wird die Humboldtsche Idee einer Einheit der Wissenschaften im Medium philosophischer Reflexion obsolet. Der Altphilologe wird mit dem Historismus zu einem Fachgelehrten neben anderen auch, und damit wird die Idee einer allgemeinen Bildung im Medium der Humaniora durch die Notwendigkeit der Spezialisierung sogar auf deren eigenem Gebiet in der Praxis widerlegt – das mußte selbst Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit Wilamowitz-Moellendorff leidvoll erfahren.
Schon in den 1870er Jahren machte das böse Wort vom »Bildungsphilister« die Runde, und etwa zur gleichen Zeit kritisierte der große Physiologe Du Bios-Reymond das humanistische Bildungsideal mit dem trockenen Hinweis, daß die antike Wissenschaft nicht technikerzeugend gewesen sei und daher als methodisches Vorbild in modernen Zeiten nichts mehr tauge. Diese Diagnose ist seither oft wiederholt worden, und das nicht nur von Naturwissenschaftlern, wie etwa von Werner Heisenberg, der einmal bemerkte, daß »die Behauptungen der modernen Physik gewissermaßen sehr viel ernster gemeint sind als die der griechischen Philosophie«, sondern gerade auch von geisteswissenschaftlichen Fachgelehrten. So hat der englische Graecist Eric Dodds in seiner Studie »The Greeks and the Irrational« darauf aufmerksam gemacht, daß die Stoa, die später im römischen Imperium immensen Einfluß erringen sollte, schon in ihrer mittleren Periode die Durchsetzung des heliozentrischen Weltbildes, das die griechische Astronomie bereits entwickelt hatte, aus religiösen Gründen verhinderte (der Stoiker Cleanthes strebte gegen Aristarchos sogar einen Asebie-Prozeß an, einen Ketzerprozeß, wie die katholische Kirche fast zwei Jahrtausende später gegen Galilei), und Theodor Mommsen läßt in seiner »Römischen Geschichte« an Cicero, dem Säulenheiligen des gymnasialen Humanismus, kein gutes Haar. Er bezeichnet ihn als »großmäuligen und langweiligen Pharisäer«, spricht vom »terminologischen Geklapper und hohlen Begriffen der