Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo


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Henrik nach der Schlägerei aufgewacht war. Die Augen waren beinahe froh gewesen. Erleichtert. Als ob er um die Prügel gebeten hätte. Glücklich wäre über die Schläge … Und die Männer – beschämt. Gute Männer. Waren dennoch viele gegen einen gewesen. Eine schlimme Sünde.

      Einar wurde es schlecht von dem Schlag. Er kotzte ein bisschen. Auf diese Weise wurde die Bestrafung gerechtfertigt.

      So erklärten sie es auch Ingrid. Henrik hatte den alten Einar geschlagen. Sie malten es nicht weiter aus. Und Ingrid war es nicht gewohnt, dass man ihr erklärte, was vorgefallen war, deshalb sagte sie nichts.

      Bei Einar gab es keine Frau. Man konnte ihn nur ins Bett legen und das Beste hoffen. Ingrid versprach, nach ihm zu sehen. Das sei ja das Wenigste, was sie tun könne, meinten die Männer – mit so einem verdammten Kerl im Haus wie Henrik. Trotzdem waren sie nicht sehr fröhlich gestimmt, als sie sich trennten und jeder nach Hause ging. Der Nachmittag und der Abend waren nicht so geworden, wie sie sich das gedacht hatten. Und sie erzählten zu Hause nicht viel. Um bei der Wahrheit zu bleiben, sie erzählten gar nichts.

      Aber alles wurde in gewisser Weise in Ordnung gebracht. Die Leute, die ins Tausendheim gehörten, wurden dahin verfrachtet, die anderen gingen dorthin, wohin sie gehörten. Alle wurden in die richtige Schublade sortiert. So hielten sie es seit Generationen.

      Um die Fischgestelle am Wegrand stank es schon nach Frühling. Der scharfe Geruch nach Fisch, der vor dem hellen Himmel zum Trocknen aufgehängt war. Gegen Mittag taute der Schnee um die Steine ein wenig auf. Abends fror es wieder, und es bildeten sich Eisnadeln auf den Wegen und an den alten Grashalmen vom Vorjahr, die im Wind schwankten.

      Simon ging, die Hände auf der Lenkstange, den Hang hinauf und verfluchte den Schnaps. Alles lief verkehrt. Er hätte sich nicht auf den angebotenen Schnaps einlassen sollen.

      Er hatte sich wie ein Kind aufgeführt! Kurz vor dem Gartenzaun von Bekkejordet traf ihn die Erkenntnis wie ein Pfahl. Dass dieser Abend sie alle rammen würde. Nicht in erster Linie Henrik. Aber ihn selbst, Rakel und vielleicht am meisten: Ingrid.

      Auch wenn er nicht verstand, was in Ingrids Kopf vor sich ging, so würde er es doch ungern sehen, wenn ihre Situation sich verschlimmerte.

      Er brauchte nicht lange für den Rückweg. Bald stand er vor Ingrids Küchentür und klopfte an. Zögernd. Er wusste nicht, wie man ihn empfangen würde. Aber es sollte gehen, wie es wollte. Es war doch alles falsch. Die Stimme von drinnen klang dünn. Aber sie trug erstaunlich gut. Wie ein Ruf über das Wasser bei dichtem Nebel.

      »Herein!«

      Sie war mit irgendetwas hinten am Küchenschrank beschäftigt. Drehte sich nicht gleich um, als er eintrat. Aber Henrik richtete die tiefen, dunklen Augen sofort auf ihn. Er zog sich gerade die Stiefel aus. War im Gesicht übel zugerichtet.

      »Guten Abend«, sagte Simon, nahm die Mütze ab und blieb stehen.

      »Setz dich!«, sagte Ingrid leise, ohne ihn anzusehen. Wandte sich dann aber um und kam bis an den Lichtkegel beim Tisch. Sie hatte eine Mullbinde und Jod in den Händen.

      Simon setzte sich in ihrer Nähe an den Tisch. Als ob sie eine Art Verbündete wäre. Er wusste nicht, ob er Angst vor Henrik hatte, jetzt, da er allein war. Jedenfalls war es so etwas wie eine Prüfung, durch die er hindurchmusste, um sich selbst wieder in die Augen sehen zu können.

      »Henrik hatte Probleme«, sagte sie bemerkenswert neutral. Wie die Stimme, die im Radio den Wetterbericht vorlas. Sie feuchtete ein Stückchen Mull mit Jod an. Ging fünf kleine Schritte zum Herd, neben dem der Mann saß. Reinigte die Wunde. Holte rasch zwei Heftpflaster aus der Schürzentasche und klebte sie über Kreuz auf das Stück Mull. Henrik rührte sich kaum. Schnitt nur Grimassen wie ein kleiner Junge, als das Jod ihn traf.

      »Ja, ich war auch dabei«, sagte Simon und räusperte sich.

      Sie drehte sich um. Blitzschnell. Als ob sie ihren Ohren nicht traute. Ihre Blicke hielten einander stand.

      »Ich fürchte, ich hab mich auch an der Schlägerei beteiligt …« Simon spürte plötzlich, wie warm es in dem Raum war. Das Gefühl zu ersticken lähmte den Rest seiner Rede, die er sich überlegt hatte.

      »Warum das denn?«, flüsterte Ingrid wie betäubt. Sie sah wie von weit her auf Henrik und legte automatisch Schere, Pflaster, Jod, Mullbinde zu einem unordentlichen Haufen auf den Tisch.

      »Er hat schlecht über Rakel gesprochen, und ich bin nicht der Mann, so was hinzunehmen«, erklärte Simon, als ob nur Ingrid und er im Raum wären.

      Ingrid sah von einem zum anderen. »Schlecht? Wieso schlecht?«

      »Nun, es war wohl nicht so bös gemeint, oder?«, räumte Simon ein und sah Henrik fragend an. Wollte ihn mit hineinziehen.

      »Was haste gesagt?«, fragte Ingrid und sah Henrik an.

      Die Möwen da draußen hatten etwas gefunden, worum sie sich zankten. Sie schrien, als ob auch sie den Sachverhalt erklären wollten.

      »Das ist alles Unsinn.« Henrik stand auf und schleuderte seine Stiefel unter den Herd.

      »Ja, was nun war oder nicht war, wir hätten’s auf eine andre Art und Weise bereinigen sollen, Henrik. Ich hätt mich nicht in die Schlägerei in der Tobiashütte einmischen sollen. Aber du bist nun mal so, dass selbst ein Stein vor Wut zerspringen könnte. Ja, ich hab’s bisher nicht gesagt. Wir haben wohl seit dem Brand überhaupt nicht mehr miteinander geredet … Aber wie dem auch sei, ich möcht jetzt einen Schlussstrich ziehn. Ich kann die Menschen nicht argwöhnisch anschaun und mich fragen, wie sie zu mir stehn. Unsre Frauen sind Schwestern … Wir können das Leben unsrer Frauen nicht durch unsre Feindschaft zerstören. Das war nicht richtig.«

      Die lange Rede hatte er nun doch losgelassen. Simon fühlte sich erleichtert und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Die Kugellampe über dem Tisch ergoss ihr Licht über seine blonden Haare.

      Hinten in der Ecke beim Herd war es warm. Aber das Licht hielt sich von dort fern. Henrik war ein Tier, das sich da hinten rührte. Bewegte ein bisschen den gesunden Arm. Ein Schatten.

      Ingrid wusste nicht, was sie von dem Ganzen halten sollte.

      »Es gibt kaum was, worüber wir zu reden hätten, mein ich«, fing Henrik an. Aber die Stimme verriet ihn. Sie taugte nicht viel. Es war nicht üblich auf der Insel, dass Feinde in der Küche zusammensaßen, um alten Groll aus der Welt zu schaffen. Die Worte waren eingeschlossene Stiefkinder.

      »Na schön, es könnte so aussehn. Aber ich glaub nicht, dass du so gemein bist, Henrik.«

      »Gemein!«, schrie Ingrid. Ihr Schrei zerriss die Luft, und Simon konnte kaum noch atmen. »Gemein? Warum sagste so was, Simon?«

      »Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll! Weil ich ihn nicht zu fassen krieg, den Mann, mit dem du zusammenlebst!«

      Simon verlor die Fassung, aber hatte sich schnell wieder in der Hand. Er sah klar Henriks Fähigkeit, die Menschen zum Kochen zu bringen, während er selbst am Rand saß und einfach nur anwesend war. Die Wut pochte wieder hinter Simons Stirn. Die Lust, noch einmal auf diesen Burschen loszugehen!

      »Ich begreif nicht, was du gegen Rakel und mich hast, Henrik. Versteh nicht, was wir dir eigentlich getan haben. Verstehst du’s selbst?«

      Es kam keine Antwort. Die Wände saugten die Worte an. Gierig. Als ob es darauf ankäme, sie möglichst schnell unsichtbar zu machen.

      Er strich sich entmutigt übers Gesicht. Wurde sich allmählich dessen bewusst, dass er bei einem um gut Wetter bat, der gar nicht daran interessiert war, etwas in Ordnung zu bringen. Er sah sich in der Küche mit den schäbigen Wänden um. Die Farbe war abgewaschen oder abgerieben worden, schon lange bevor Ingrid mit ihrem Schmierseifenwasser angefangen hatte. Die armseligen Möbel. Die abgetragenen Kleidungsstücke am Haken neben der Tür. Der Geruch eines Hauses, in dem viele Menschen lebten. Die Türen konnten neugierige Augen und Ohren nicht ausschließen. Wahrscheinlich klebten Ohren im Treppenhaus an den Wänden. Um zur Stelle zu sein, wenn etwas los war. Die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal konnte dadurch gelindert werden,


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