Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy
aber entkommen. Er sagte, Papa ist ein sehr tapferer Mann und wir können stolz auf ihn sein. Papa hat ihm aufgetragen, uns Papiere zu verschaffen, die er uns beim nächsten Mal auszuhändigen hofft, aber dafür braucht er von uns erst einmal neuere Fotos für gefälschte Ausweispapiere. Die werden uns in die Lage versetzen, nach Toulouse zu Papa zu gelangen.
An diesem Punkt gingen wir alle drei ins Schlafzimmer, schlossen die Tür und sahen uns sorgfältig Papas Brief an, um sicherzugehen, dass er wirklich von ihm war und dass wir es nicht mit einem verkappten Faschistenjungen zu tun hatten, der uns eine Falle stellen wollte. Aber es war ganz offensichtlich Papas Handschrift. Der Brief war kurz, und es stand nur darin, dass er uns lieb hat, uns fürchterlich vermisst und dass wir dem jungen Mann geben sollen, was er braucht, denn er würde es ihm auf seinen nächsten Runden überbringen, wie Papa sich ausdrückte.
Das Problem war nur, wir haben uns schon seit mehreren Jahren nicht mehr fotografieren lassen, und wir wagten nicht, sosehr wir sie auch hassen, von unseren Kennkarten mit dem großen roten Stempel JUIVE die Fotos zu entfernen. Wir sagten dem jungen Mann, wir könnten in der nächsten Woche versuchen, Fotos zu bekommen. Wir haben kaum Geld. Er erwiderte, wir sollten sehen, was wir tun könnten, aber er könne nicht warten, da er weiter nördlich noch etwas zu erledigen habe. Er wolle auf dem Weg nach Süden vorbeischauen, sagte er, und die neuen Fotos abholen.
Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich keinem außerhalb der Familie ein Wort davon erzählen werde, und ich warnte auch Maman, die immer vernünftig ist, und Rivka, die es nicht ist, über diesen Besuch Stillschweigen zu bewahren. Ich habe dem Wunsch meiner Schwester, bei ihrem hebräischen Namen genannt zu werden, nachgegeben, denn sie hat in diesen Tagen so wenig Freuden.
Dann kam ein Geschenk von Naomi aus Detroit in den USA. Ich war überrascht, dass der kleine Quälgeist an meinen Geburtstag gedacht hatte, aber wahrscheinlich hat wohl ihre Tante für das Paket gesorgt. Es ist vor zwei Monaten aufgegeben worden, aber alles ist heil geblieben, und wir waren entzückt. Sie hat uns eine große koschere Wurst geschickt, also nehme ich an, dass es da drüben auch so etwas gibt, ein Kilo Zucker, ein Glas Stachelbeermarmelade, ein Glas Aprikosenmarmelade und ein Glas Himbeermarmelade. Alles Süße ist bei uns ein Volltreffer. Sie hat auch zwei Stück Camay-Seife und ein Glas Leberpâté hineingelegt.
Naomi schreibt regelmäßig, aber ihre französische Grammatik ist entsetzlich und wird immer schlimmer. Sie wird zu einer Wilden. Ich weiß nicht, ob Papa das Richtige tat, sie so ganz allein wegzuschicken. Wir bekommen auch Briefe von Rose Siegal in Jiddisch, einer Sprache, die ich nicht lesen kann, aber Maman übersetzt. Tante Rose (Mamans älteste Schwester) versichert uns, dass Naomi wohlauf ist und ihr Englisch verbessert (während sie ihre eigene Sprache verleugnet, ergänze ich) und rasch wächst. Das tut Rivka auch, aber sie ist zu dünn. Wenn wir nur ein bisschen mehr für sie zu essen hätten. In der Schule bekommen die Kinder Vitaminkekse. Manche Kinder tauschen ihre ein, aber ich habe Rivka eingeschärft, ihren jeden Tag zu essen. Tante Rose fragt nach Tante Batya, ihrer Schwester, die immer noch in Drancy ist. Maman wird ihr das wenige, was wir wissen, schreiben, denn wir dürfen die Gefangenen nicht besuchen.
Es war sehr einfühlsam von Naomi oder Tante Rose, uns diese Geschenke zu schicken. Der Winter setzt früh ein, und wir frieren erbärmlich. Wir haben keine Heizung. Maman bekommt Frostbeulen. Wir gehen mit einer Wärmflasche ins Bett, aber die bleibt nur eine Stunde lang warm. Wir schlurfen herum wie Altkleiderbündel und haben ständig Handschuhe an, die wir nur ausziehen, wenn wir abwaschen müssen.
Die Seife ist eine besondere Wohltat, denn wir können ein regelmäßiges System einführen, einmal in der Woche zu baden. Wir hatten seit Oktober keine Seife, da wir sie gegen Nahrungsmittel eingetauscht haben. Rivka braucht etwas zu essen und Maman auch. Ich futtere mich noch am besten durch, weil ich von meinen Freunden verwöhnt werde, die alle gute Schwarzmarktbeziehungen und immer ein Häppchen für mich haben und manchmal sogar eine ganze Mahlzeit. Wo immer ich kann, versuche ich, ein Brötchen oder ein Stück Hühnchen für Rivka und Maman einzustecken, heimlich, denn einmal hat mich Céleste dabei ertappt, wie ich einen halben Croque-Monsieur in die Tasche stecken wollte, und sagte: Na, wenn du keinen Hunger hast, esse ich ihn, und das tat sie.
Ja, außerhalb des Hauses esse ich Schinken. Ich würde eine Kröte essen, wenn mir jemand eine vorsetzte. Ich hätte den Schinken Rivka gegeben und ihr gesagt, es sei Cornedbeef. Ich fühlte mich elend, weil ich Hunger hatte und ihn entsetzlich gern gegessen hätte, aber noch lieber hätte ich ein bisschen davon Rivka gegeben, die nur noch Haut und Knochen und fast blau im Gesicht ist. Maman meint, vielleicht hat sie Blutarmut, aber was können wir dagegen tun? Henri hat mich diese Woche nicht zum Mittagessen eingeladen. Für ihn steht inzwischen fest, dass ich meine Jungfräulichkeit zum Fetisch erhebe, und er sagt, solchen bürgerlichen Humbug müsste ich überwinden.
Gut, sagte ich, ich werde auf den Boule Mich’ gehen, das erstbeste Fahrradtaxi anhalten und mich anbieten.
Ein Fremder könnte eine Krankheit haben, sagte er. Ich denke dabei nur an dich.
Ich weiß, wie du an mich denkst, und träum weiter, sagte ich. Ich tue völlig gelassen, denn das muss man, aber ich fühle mich ganz merkwürdig, wenn ich mit ihm am Tisch sitze und er ständig wie rein zufällig mein Knie berührt, meinen Ellbogen, meine Schulter. Wenn wir nicht so viele Kleiderschichten anhätten, könnte er sehen, dass ich manchmal eine Gänsehaut bekomme. Zu meinem Glück sind wir beide in unsere Sachen eingewickelt wie Mumien im Museum, und selbst wenn er mich zu küssen versucht, kommt er nicht näher als fünfzehn Zentimeter, weil wir so ausgestopft sind. Trotzdem träume ich davon, wie seine Augen, hellbraun wie nasser Sand, sehnsüchtig an mir hängen.
12 décembre 1941
Jetzt befindet sich Deutschland also im Krieg mit den USA. Henri sagt, die Deutschen haben am Ende mehr abgebissen, als sie kauen können, aber uns scheinen sie leicht genug verdaut zu haben. Ich habe wenig konkrete Hoffnung, jemals in einer nicht von Irrsinn beherrschten Welt zu leben, oder höchstens irgendwann einmal als alte Frau. Wir werden keine Pakete mehr von Naomi bekommen und auch keine Briefe mehr. Wir sind von unserer Schwester abgeschnitten, als wäre sie auf dem Mond! Maman weint viel über Naomi und schilt sich dann für ihre Selbstsucht, da doch wenigstens eines ihrer Kinder in Sicherheit ist. Rivka war nie mehr die Alte, seit Naomi fort ist; sie ist nur noch ein halbes Kind, still, fügsam und zutiefst einsam, obwohl ich so sehr viel mehr Zeit mit ihr verbringe.
Gestern ist etwas einfach Unvorstellbares geschehen. Die Nazis haben in einer Razzia eintausend französische Juden zusammengetrieben, darunter alle Rechtsanwälte, die bei der Pariser Anwaltskammer zugelassen sind, ja überhaupt alle. Sie haben Ärzte, Anwälte, Schriftsteller und Intellektuelle geholt und einfach verhaftet. Niemand scheint zu wissen, wohin sie gebracht worden sind, außer dass es diesmal nicht Drancy ist, wo die armen Balabans eingesperrt sind. Wir haben ihnen kleine Päckchen gebracht, wurden aber nicht hineingelassen. Das Lager stinkt schon aus zweihundert Metern Entfernung. Es ist eine unfertige Neubausiedlung, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen. Man müsste meinen, die armen Balabans seien Vergewaltiger, Mörder und Terroristen und nicht eine Familie von Fabrikarbeitern.
Wohin sie die schrecklich gefährlichen Schriftsteller, Anwälte und Ärzte gebracht haben, ist reine Vermutung. Wir machen uns Gedanken und haben Angst, wir geben Gerüchte weiter und warten auf die Rückkehr des Pfadfinders, aber bis jetzt war er noch nicht da. Die Rechtfertigung für diese Razzia – aus irgendeinem Grund haben die Nazis immer gern eine Rechtfertigung, und sei sie noch so fadenscheinig – ist Bestrafung, weil jemand auf einen deutschen Luftwaffenoffizier geschossen hat. Das ist alles.
Im Café Le Jazz Hot machen alle Witze darüber, dass ich die letzte Jungfrau von Paris bin. Céleste verkündete heute, dass sie mich ausstopfen und in einen Schaukasten im Musée de l’Homme stecken werden. Ich sagte, mir wäre das nur recht, solange ich mit Brathuhn und Kalbsschnitzeln und Steaks ausgestopft werde. Henri sagte, wie wäre es mit meiner Salami. Manchmal erröte ich innerlich von dem, was sie sagen, aber ich bleibe sehr kühl. Ich sagte, nein danke, deine Salami ist nicht koscher.
Hinterher dann, als Henri mich zur Metro brachte, fragte er mich, ob ich nicht mit ihm schlafe, weil er kein Jude ist. Er wollte mitten auf dem Bürgersteig ein ernsthaftes Gespräch über etwas anfangen, was ich im Scherz gesagt hatte,