Er, Sie und Es. Marge Piercy

Er, Sie und Es - Marge Piercy


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Abendbrot, Davidl.« Sie redet ihn wie einen Sohn an, obwohl er in den Fünfzigern ist; er wirkt jünger, denn er ist behände und neugierig.

      David ist blitzgescheit, aber nüchtern und jedem Streit abhold. Er hat moderne Ideen über die Astronomie. Er ist willkommen in dem Observatorium, das Tycho Brahe unter Rudolfs Schirmherrschaft erbaute, das beste und präziseste Observatorium in ganz Europa. Sein Werk, neue Entdeckungen in der Geografie dem Volk bekannt zu machen, schließt einige der vortrefflichsten Karten ein, die von der Neuen Welt gefertigt werden. Aber David Gans ist kein Kabbalist. Geistesdingen gegenüber ist er scheu. Er liebt es, Ideen zu erörtern, aber solche, die sich mit der für ihn realen Welt beschäftigen, der Welt der Materie.

      Soll Judah seinen Schwiegersohn und früheren Sekretär zu Rate ziehen, Itzak Cohen? Itzak ist ein guter Mann, ein gescheiter Mann, aber er folgt der Führung des Maharal. Die Antwort, um die er sich bemühen wird – würde ihm die Fragestellung vorgelegt –, wird die sein, die der Maharal von ihm hören möchte. Er ist Judah doppelt kostbar, weil er zuerst Leah heiratete, dann, nach ihrem Tod, Vogele, und weil er der Vater von Chava ist, Judah von allen am teuersten, aber Itzaks Meinungen einholen heißt, in einen wässerigen Spiegel schauen.

      Itzak Cohen ist Anfang fünfzig, sein Bart buschig und weiß. Draußen in der Welt ist er ein berühmter Gelehrter, ein Mann, dessen Rat gesucht wird, der als weise gilt und auch als klug in Geschäftsdingen, ein seltenes Zusammentreffen. Sobald er mit dem Maharal ist, überkommt ihn jedoch die ehrfürchtige Scheu vor seinem Lehrer. Seine Stimme wird etwas höher. Er scheint kleiner. Er wird wieder zum Knaben.

      Vielleicht hätte er die Rolle des Ersatzsohnes füllen können, wäre sein eigener Vater weniger stark in Erscheinung getreten. Mit seinem leiblichen Vater ist Itzak fest, großzügig, versöhnlich; er vertritt Vaterstelle an seinem eigenen, glücklosen Erzeuger, gewährt ihm in seinem Hause Obdach. Der ältere Cohen ist der geborene Lackmeier, den ein Schwindler nach dem anderen schröpft.

      Was ist mit Judahs begabtestem Schüler, Jakov Sassun ha-Levi? Jakov ist zwanzig Jahre jünger als Itzak; er erhellt des Rabbis alte Tage mit seinem hervorragenden Verstand. Er ist undiszipliniert; in ihm erkennt der Maharal seine eigene Liebe zu Wortschlachten. Judah sucht dieses Feuer zu läutern mit Weisheit und Urteilskraft. Nein, Jakov würde auf der Stelle einen Golem machen wollen, einfach weil es gefährlich ist und am Rande der Blasphemie. Er hat immer noch ganz stark das Bedürfnis, sich zu beweisen, dieser Jakov Sassun.

      Jakov Sassun ist ein schlanker, lederner, hochgewachsener Mann, seit kurzem Witwer. Er ist mit drei Kindern zurückgeblieben, alles Söhne, und schaut sich nach einer Frau um. Er hat schon sein Interesse an Chava bekundet, die ihn höflich, aber deutlich zurückwies. Jakov ist hartnäckig, überzeugt, dass er sie überreden kann. Ihm liegt mehr daran, in die Familie des Maharal zu heiraten, als ihm daran liegt, Chava zu heiraten, aber sie ist anziehend und gescheit. Jakov lahmt ein wenig, von einer Straßenschlägerei mit Christenraufbolden in seiner Jugend. Er hat eine schöne, kräftige tiefe Stimme und er singt oft in geselliger Runde, nicht nur religiöse Lieder, auch jiddische Lieder über wundertätige Rabbis und liebeskranke junge Leute und Heiraten und Todesfälle. Musik verzückt ihn, bis die Augen in seinem langen, hageren Gesicht leuchten. Judah hat ihn gern, wäre nicht allzu abgeneigt, wenn Chavas Wahl auf ihn fiele, doch Jakovs Urteilsvermögen muss erst noch geläutert werden, durch Erfahrung und mehr Weisheit.

      Jakov wohnt nicht weit, im Haus von Chaim dem Silberschmied, der zu einigem Wohlstand gelangt ist und der für die Altneuschul eine wunderschöne silberne Krone für die Torarolle macht, zu Rosch Haschana soll sie fertig sein. Sie ist ein Geschenk von ihm. Etliche Synagogen haben schon Waschbecken und Kandelaber, die Chaim gemacht hat, aber sie wurden von reichen Spendern wie Mordechai Maisl bezahlt. Dies ist das erste Mal, dass Chaim meint, solch einen Beitrag selbst leisten zu können, aus seiner eigenen Werkstatt und seiner eigenen Tasche. Der Maharal hat mit Chaim mehrere Nächte über der Ausgestaltung der Krone zugebracht. Auf das Silber soll eine Methode angewandt werden, wie sie oft in kalligrafischen Zeichnungen benutzt wird: Viele winzige hebräische Buchstaben werden zu Gegenständen wie Blüten und Blättern zusammengesetzt.

      Die Ereignisse entscheiden für Judah. Was ihn zu einem Entschluss bringt, ist die Verhaftung von Chaim dem Silberschmied. Er wird beschuldigt, gemeinsame Sache mit den Türken gemacht und militärische Geheimnisse weitergegeben zu haben, aber er ist in Schwierigkeiten, weil er in aller Stille begonnen hat, feine Kandelaber und Kultgegenstände von eigenständiger und eindrucksvoller Gestalt anzufertigen, eine Konkurrenz für die christlichen Silberschmiede. Er wird im Gefängnis gefoltert und kein noch so hohes Bestechungsgeld von Seiten seiner Frau oder seiner Familie scheint seine Freilassung bewirken oder ihm wenigstens den Tod ersparen zu können. Der Maharal geht zu Fuß ins Rathaus, zum Statthalter des Kaisers. Er sucht Pater Jiri auf, mit dem er vorsichtig verkehrt. Alle Fürbitten prallen gegen eine Wand aus Eisen.

      Die Ergreifung des Silberschmieds aufgrund einer so herbeigesuchten Beschuldigung ist dem Maharal eine deutliche Warnung, dass er das Wetterleuchten richtig liest und sich ein Blutsturm zusammenbraut. Am Tage, an dem Büttel mit Pikenieren ins Ghetto kommen, um die Besitztümer des Silberschmieds zu beschlagnahmen und seine Familie auf die Straße zu setzen, bittet der Maharal Itzak und Jakov, zu ihm zu kommen, leise, unauffällig und ohne jemandem davon zu sagen. »Beginnt zu fasten. Geht heute Abend in die Bäder und reinigt euch. Dann kommt um Mitternacht zur Altneuschul. Ich werde dort sein.« Es ist Rosch Chodesch, Neumond.

      Er hat beschlossen, nur Itzak und Jakov mitzunehmen. Er dachte daran, auch David aufzufordern, verwarf es aber rasch. David würde unablässig Fragen stellen und Notizen machen wollen. Ferner befürchtet der Maharal, dass David sich schwertun würde, das nächtliche Unterfangen nicht als Physikexperiment zu betrachten, und auch kaum davon abzuhalten wäre, eine ausführliche Niederschrift nebst dazugehörigen Erklärungen anzufertigen. Nein, nur Itzak und Jakov dürfen ihn begleiten.

      Um Mitternacht steht er im Tor zur Altneuschul, wo ich selber gestanden habe, wenn auch nie um Mitternacht. Sie ist ein kleines, aber kraftvolles gotisches Bauwerk, dessen Stirnmauer wie eine ausgezackte Menora gestaltet ist. Europas älteste Synagoge, an Pomp und Prunk das Gegenteil einer Kathedrale, ist klein, schmächtig und doch von ergreifender, schlichter Erhabenheit. Willst du sie betreten, steigst du hinab, und dann erheben sich deine Augen zu den schmalen Fensterschlitzen in den hohen weißen Wänden. Aus der Altneuschul holt der Rabbi eine Tora, wickelt sie sorgfältig in einen Überwurf ein und dann in einen noch größeren darüber, gegen den feuchten Märzwind, der zwischen den Häusern hindurchglitscht, die krummen schmutzigen Gassen entlang, und sich dann auf dem Friedhof jenseits der Synagoge entfaltet. Der Maharal führt seine Helfer auf den Friedhof, er sieht sie beklommene Blicke tauschen. Was macht er mitten in der Nacht auf dem Friedhof? Hat ein Dybbuk einen der ihren besessen oder erhebt sich ein Gespenst wegen irgendeiner Ungehörigkeit bei der Grablegung?

      »Jeder nehme eine Schaufel.« Er öffnet den kleinen Schuppen des Friedhofsdieners. Jede Nacht werden in Prag die Pforten des Ghettos verschlossen, die Juden sind für die Nacht eingesperrt, die Christen angeblich ausgesperrt: gerade so, wie wir uns hinter unseren elektronischen Mauern verbergen, unseren Überwachungsgeräten, unseren Amateuraufpassern, um zu überleben. Aber eine Mauer kann überklettert oder untertunnelt werden, oder ein paar strategische Steine können leise gelockert werden. Der Maharal kennt jeden Ziegelstein des Ghettos. Es ist ein enges Beieinanderleben, jeder riecht, was andere zu Abend essen, und hört, worüber andere streiten. Privatleben, Intimsphäre, soll das ein Witz sein? In Prag auf dem jüdischen Friedhof sind sogar die Toten zusammengepfercht, übereinander begraben, die Steine wild nebeneinandergezwängt wie schiefe Zähne. Die Toten können nicht umgebettet werden, das würde die nötige Ehrerbietung vermissen lassen, aber den Juden ist nicht erlaubt, ihre Toten außerhalb des Ghettos zu begraben. Deshalb wird regelmäßig eine frische Erdschicht über die Gräber geschüttet, die Grabsteine werden zur neuen Oberfläche hochgeholt, ein frisches Grab wird ausgehoben und ein weiterer Grabstein der Menge hinzugefügt, es geht zu wie in den U-Bahnen, wenn sie nach Arbeitsschluss die Konzern-Enklaven verlassen.

      Der Maharal geht voran, mit der Tora und einer Blendlaterne. Dahinter trabt Itzak, klein und untersetzt, sein weißer Bart hebt sich leuchtend von seinem dunklen Überwurf ab, und zu seiner Linken Jakov, hochgewachsen wie der Maharal, hager, auf einen seiner


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