Kobudo 1. Roland Habersetzer
Wege (Dô, Michi) für den Menschen, der nach Vervollkommnung strebte. Die Herausforderung dieser Wege bestand in dem intensiven Üben von Techniken, die Ausdruck der Einheit zwischen Körper und Geist waren. Diese Einheit, die durch perfekte Beherrschung der Bewegungsformen und Haltungen erreicht wurde, war die Quelle für vollkommene Effektivität in jeder Hinsicht.
Sai (Dreizack), Bô (Stock), Nunchaku (Dreschflegel) und Tonfa (hölzerner Stiel mit seitlichem Griffstück) sind die vier Hauptwaffen des okinawanischen Kobudô. Ihre Techniken sind sehr komplex. Sie zu beherrschen erfordert ein Höchstmaß an Kontrolle, vor allem in Bezug auf die richtige Einschätzung von Abständen, die fehlerlose Koordination von Bewegungsabläufen und den richtigen Einsatz der inneren Energie (Qi). Das, was mitunter medienwirksam bei öffentlichen Vorführungen als Kobudô präsentiert wird, drängt den eigentlichen Sinn des Kobudô an den Rand, ganz zu schweigen von den Versuchen, diese Kampfkunst in einen Sport umzuwandeln. Tatsächlich hat sich der Endzweck dieser Kunst wie der aller Kampfkünste gewandelt. Ihre Techniken sind nicht mehr dazu bestimmt, im Kampf eingesetzt zu werden, wo sie gegen moderne Waffen weitgehend chancenlos wären. Heute besteht ihr Daseinszweck vorrangig darin, daß der Praktizierende mit ihrer Hilfe seine Persönlichkeit entwickeln kann. Der Gegner steht nicht mehr vor ihm, sondern befindet sich in ihm selbst. Das Ziel, „den Gegner zu besiegen“, wandelte sich zum Ziel, „sein eigenes Ego zu besiegen“.
Man findet im Kobudô den gesamten erzieherischen Reichtum der fernöstlichen Kampfkünste. Dessen außerordentlicher Wert drückt sich darin aus, daß all die Mühe, die man auf sich nimmt, um die Kampftechniken beherrschen zu lernen, dadurch belohnt wird, daß man in sich den Geist des Friedens und der Ehrfurcht vor dem Leben entdeckt. Als Instrumente, die dazu bestimmt sind, die Persönlichkeit zu schmieden (Seishin tanren) und nicht direkt auf die Außenwelt einzuwirken, sind die Waffen des Kobudô tatsächlich Waffen des Friedens. Denn es gilt immer und in jeder Hinsicht, daß die Beherrschung des Selbst die Basis für eine zivilisierte Gesellschaft ist.
Foto 1: Der Autor mit Matayoshi Shinpô Shihan, Präsident der Gesamtokinawanischen Kobudô Assoziation in dessen Dôjô in Japan. Dieses Foto entstand während einer Studienreise, die Roland Habersetzer als Leiter einer bedeutenden Gruppe von Experten des CRB im Sommer 1984 unternommen hat. Die Studienreise war die Fortsetzung einer Beziehung, die 1973 in Straßburg ihren Anfang genommen hatte.
Foto 2: Der Autor zusammen mit Kampfkunst-Meistern im Kôdôkan von Naha. Links im Bild Itokazu Seko, Mitbegründer des Pangai Noon ryû. Das Foto entstand bei der gleichen Gelegenheit wie Foto 1.
Ein aus seinem historischen Zusammenhang gelöstes Kobudô ist natürlich nicht mehr dasselbe, was es ursprünglich war. Diese Kampfkunst mit all ihren Techniken ist durch den Geist des Widerstands, des Nichthinnehmens, des Nichtaufgebens angesichts äußerer Zwänge geprägt. Sie bildete sich heraus, weil das freiheitsliebende Volk Okinawas sich gegen die Unterdrückung durch fremdländische Besatzer zur Wehr setzen wollte. Ihre Techniken, die sich in der Feudalzeit entwickelten, als die Insel von japanischen Invasoren beherrscht wurde, verwandelten Werkzeuge aus dem Alltag der Bauern und Fischer in todbringende Waffen. Praktiziert man diese alte Kampfkunst heute, so ist es wichtig zu versuchen, sie in ihrem ursprünglichen Geiste auszuführen, im Geiste eines Menschen, der frei ist und frei bleiben will, und der nicht alles, was man ihm aufnötigen will, hinnimmt. Eines Menschen, der seinen Widerstandsgeist gegen alles, was ihn zu zerstören versucht, bewahrt. Das Kobudô ist Teil des kulturellen Erbes Okinawas. Aber der dahinterstehende Wille des Menschen zu überleben, ist universell und gilt für alle Zeiten. Das alles sind starke Gründe dafür, die Kunst des Kobudô – die Techniken wie den Geist – nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen.
Jede Facette des Kobudô erfordert lange Jahre geduldiger Praxis. Glücklicherweise ist es heute dank der phantastischen Entwicklung der audiovisuellen Techniken und der modernen Reisemöglichkeiten einfacher geworden, Zugang zum Kobudô zu erlangen.
Als ich im Jahre 1984 das Museum der Präfektur von Okinawa in Shuri besuchte, war ich äußerst erstaunt und betrübt darüber, daß dort nicht die kleinste Andeutung auf irgendeine Waffe des Kobudô zu finden war. In meinem 1985 erschienen Buch „Sai“ schrieb ich daraufhin: „Vielleicht ist es ja die Aufgabe des Westens, dieses verblüffende Vergessen seitens derjenigen, die daran am meisten interessiert sein müßten, überwinden zu helfen.“ – Erfreulicherweise haben sich die Zeiten geändert. Im Jahre 1987 hat Hokama Tetsuhiro in seinem Dôjô für Karate und Kobudô in Nishihara (Okinawa Gôjû ryu Kenshikai Honbu dôjô) ein bedeutendes Museum der okinawanischen Kampfkünste eröffnet.
Ich habe im Jahre 1973 mit der Praxis des okinawanischen Kobudô begonnen, als ich zum ersten Mal Matayoshi Shinpô3 Sensei begegnete, der einer der größten Meister auf diesem Gebiet war (10. Dan). Ich hatte die außerordentliche Ehre, ihn als Gast in meinem Haus im Elsaß empfangen zu dürfen. Später besuchte ich ihn mehrere Male in Japan.
Es war mir stets wichtig, meine Leidenschaft für die ostasiatischen Kampfkünste mit anderen teilen zu können. Aus diesem Grunde habe ich bereits 1975 ein Werk über diese alte okinawanische Kunst verfaßt.4 Aufgrund des großen Interesses, auf das dieses Buch stieß, entwickelte ich den Stoff weiter, so daß in der Folge drei Bände entstanden.5 Diese Bücher wurden in zahlreichen Ländern kopiert und plagiiert, mitunter sogar, ohne daß der Name des Autors genannt wurde. Obgleich einige meiner Werke dieses Schicksal teilen, hat mich das nie von meiner Haltung abgebracht, alles, was ich gelernt habe, offenzulegen. Mit dieser Absicht zur Popularisierung waren meine Bücher immer Wegbereiter. Ich wollte die Möglichkeit schaffen, daß auch andere aus den Quellen schöpfen können, damit der Weg offen bleibe, sowohl für jene, die ihn in Zukunft beschreiten wollen, als auch für die letzten authentischen alten Meister, die ihn mit ihrem ganzen Herzen lehren wollen. Ich habe daher niemals die mit dieser Arbeit verbundenen Mühen gescheut.
Siegel des von Matayoshi Shinpô gegründeten „Gesamtokinawanischen Kobudô Renmei“.
Ich vertrete die Ansicht, daß das Studium der traditionellen Waffen des Kobudô in den Dôjô häufiger vermittelt werden sollte. Ihre Praxis läßt einen seine Fehler leichter erkennen, sie schärft den Geist und führt zu größerer Bescheidenheit. Beim Umgang mit ihnen wird schnell deutlich, daß ihre eigentliche, ursprüngliche Bedingung der Kampf auf Leben und Tod ist. In diesem Zusammenhang möchte ich jeden Budôka daran erinnern, daß es zwar sehr gut ist, die Waffen immer besser zu beherrschen, man jedoch unbedingt vermeiden muß, tatsächlich einmal auf sie angewiesen zu sein.
All jenen, die mir dabei geholfen haben, daß dieses Werk entstehen konnte, möchte ich meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Ich werde niemals vergessen, daß sie mich an ihrem Wissen teilhaben ließen, damit ich es meinerseits weitervermitteln kann. Diese Bücher hätten nicht entstehen können ohne die Meister Mochizuki Hiro, Chinen Kenyû, Adaniya Seisuke, Tamano Toshio, Suzuki Tatsuo, und vor allem nicht ohne die Meister Matayoshi Shinpô (1922 - 1997) und Inoue Motokatsu (1918 - 1993), denen ich diese Seiten mit besonderer Ehrfurcht und Dankbarkeit widmen möchte. Ich wünsche mir, daß auf diesem Wege ihre Kobudô-Kunst zu Ihnen, den Lesern, gelangen möge.
Ich wünsche meinen hochgeschätzten Lesern der deutschen Ausgabe, in diesen Büchern ein traditionelles Wissen zu entdecken oder zu vertiefen, das zum gemeinschaftlichen Erbe der Kampfkünste gehört.
Weiterhin möchte ich dem Palisander Verlag danken, daß er einem Werk neues Leben eingeflößt hat, das einst, als diese Kunst außerhalb Japans noch nahezu unbekannt war, den Weg des Kobudô in Europa bereitet hat.
Roland Habersetzer
9. Dan Karatedô (Japan), Hanshi
Soke: Tengû ryû
Saint-Nabor, Juni 2006
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