Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute. Herbert Meißner

Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute - Herbert Meißner


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Stalin. Aber dies hat auch einen persönlichen Aspekt. Lenin unterzeichnete offizielle Dokumente, Anweisungen und politische Briefe allgemein nur mit »Lenin«. An Personen gerichtete Briefe meist »Mit kommunistischem Gruß«. An Vertraute wie Maxim Gorki mit »Ihr Lenin«. Es werden kaum Schriftstücke zu finden sein, unter denen steht: »Mit bestem kameradschaftlichen Gruß«.

      In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Lenin zu diesem Zeitpunkt damit begann, ernsthaft gegen Verbürokratisierung, Schlamperei und Vetternwirtschaft aufzutreten. In einem Brief an den Parteitag bezog er sich auf die Aufgabe, »unseren Apparat zu überprüfen, zu verbessern und neu zu gestalten. Die Arbeiter- und Bauerninspektion, die diese Funktion zunächst innehatte, erwies sich als außerstande, ihr gerecht zu werden…« [37] In einem Brief »An die Kollegiumsmitglieder des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion« vom 21. August 1922 heißt es: »Ich habe immer gehofft, dass der Zustrom neuer Funktionäre in das Kollegium der Arbeiter- und Bauerninspektion die Sache beleben wird, aber aus dem, was Stalin sagte, konnte ich nichts dergleichen ersehen.« [38] In seiner bekannten Arbeit »Lieber weniger aber besser« kam Lenin am 2. März 1923 erneut auf die Arbeiter- und Bauerninspektion zurück. Er stellte fest: »Sprechen wir offen. Das Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion genießt gegenwärtig nicht die geringste Autorität. Jedermann weiß, dass es keine schlechter organisierten Institutionen als die unserer Arbeiter- und Bauerninspektion gibt und dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen von diesem Volkskommissariat rein gar nichts zu erwarten ist.« [39] Für die Arbeit dieses Volkskommissariats war aber Stalin verantwortlich, weshalb Lenin auch mit diesem das oben angeführte kritische Gespräch führte. Insofern ging die ganze harte Kritik in hohem Maße an Stalins Adresse.

      Obwohl Trotzki in dieser Hinsicht nicht explizit in Erscheinung trat, entwickelten sich die Dinge angesichts von Lenins Kampf gegen Verbürokratisierung, Misswirtschaft und Herrschaft der Apparate in eine Richtung, in der Stalin gegenüber seinem Widersacher Trotzki immer mehr ins Hintertreffen geriet. Lenin hat diese Gegnerschaft mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und darin eine Gefahr für die Stabilität der Partei erkannt. In seinem berühmten »Brief an den Parteitag«, der häufig als eine Art Testament angesehen wird, schrieb er am 24. Dezember 1922: »Ich denke, ausschlaggebend sind in der Frage der Stabilität unter diesem Gesichtspunkt solche Mitglieder des ZK wie Stalin und Trotzki. Die Beziehungen zwischen ihnen stellen meines Erachtens die größere Hälfte der Gefahr jener Spaltung dar, die vermieden werden könnte…« [40] Und Lenin setzt fort: »Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.« [41] Über Trotzki schrieb er, dieser zeichnet sich »… nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.« [42]

      Aber zwei Wochen später, d.h. am 4. Januar 1923, fügt Lenin dem eine Ergänzung zu. Hier geht er einen deutlichen Schritt weiter und stellt fest: »Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte und jemand anderen an diese Stelle zu setzen…« [43] Und Lenin zählt nochmals jene Verhaltensweisen Stalins auf, die unter dem Sammelbegriff Grobheit subsumiert sind und die ein anderer Generalsekretär nicht haben darf: »… dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist.« [44]

      Mit welch aus heutiger Sicht wirklich genial zu nennendem Weitblick Lenin dieses Problem erkannt hat, zeigt sich an folgender Bemerkung: »Es könnte so scheinen als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit, oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann.« [45] Heute ist bekannt, welch entscheidende Bedeutung »diese Kleinigkeit« für die KPdSU und für die gesamte internationale Arbeiterbewegung erlangt hat.

      Am 21. Januar 1924 starb Lenin.

      Damit war die erste Periode der Herausbildung des Trotzkismus beendet. Wieso ist das so zu kennzeichnen, wo doch dieser Begriff in der Zeit von 1918 bis 1924 noch gar nicht auftaucht? Das lässt sich daraus ableiten, dass sich die politischen Gegensätze zwischen Stalin und Trotzki in dieser Zeit an jeweils sehr unterschiedlichen Vorgängen entzündeten. Ihnen lag noch keine konzeptionelle und strategische Gestalt zugrunde. Erst mit der Verhärtung des Verhältnisses von Lenin zu Stalin, mit der Leninschen Empfehlung der Abberufung Stalins, mit der Ankündigung Lenins des Abbruchs aller persönlicher Beziehungen zu Stalin, wenn dieser sich nicht bei Lenins Frau Nadeschda Konstantinovna Krupskaja für erfolgte grobe Beleidigungen entschuldige – erst dann erkannte Stalin die akute Gefahr seines Machtverlustes. Es entstand für ihn die Notwendigkeit, seinem Konflikt mit Trotzki eine theoretische Konzeption unterzulegen. Insofern kann die Zeit bis zu Lenins Tod als erste Periode oder als Vorstufe für die Entstehung des Trotzkismus betrachtet werden.

      6.2 Zweite Etappe nach Lenins Tod

      Die zweite Etappe der Entstehung des Trotzkismus entfaltete sich auf zwei Ebenen. Erstens auf der praktisch-politischen Ebene und zweitens auf der konzeptionell-theoretischen Ebene. Im praktisch-politischen Bereich begann dies mit einer Intrige Stalins. Als Lenin starb, befand sich Trotzki auf dem Weg zu einer ärztlich verordneten Kur in Suchumi und wollte dies nach der Nachricht von Lenins Tod sofort abbrechen und nach Moskau zurückkehren. Daraufhin ließ Stalin ihm einen sehr frühen Bestattungstermin mitteilen, zudem er ohnehin nicht mehr zurecht käme und er daher seine Kur fortsetzen solle. Dann wurde jedoch ein späterer Termin festgesetzt, den Trotzki hätte erreichen können. Nun trat Stalin als der maßgebende Parteiführer und kompetente Grabredner bei der Bestattungsfeier auf. Partei und Land wunderten sich zunächst, aber jetzt ging es Schlag auf Schlag und der Kampf dieser beiden Parteiführer gegeneinander wurde in die Öffentlichkeit getragen.

      Lenins Bemühen um eine deutliche Verbesserung der Arbeitsweisen des Staatsapparates, um eine Einschränkung der Herrschaft der Parteibürokratie und um eine Beschneidung der »gewaltigen Macht« in den Händen des Generalsekretärs wurde schon während Lenins Krankheit von einer beachtlichen Zahl von Parteifunktionären unterstützt und nach Lenins Tod fortgesetzt. Ihr Wortführer war Leo Trotzki. In einem Brief an das ZK der KPR vom 8. Oktober 1923 wandte sich Trotzki scharf gegen die installierte Herrschaft der Apparate in Partei und Regierung, gegen die Missachtung der Demokratie und gegen die »praktizierte falsche Politik«. Diese Kritik stützte sich auch auf die Kenntnis der wachsenden Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage und der innerparteilichen Entwicklung in der Bevölkerung und in der Parteimitgliedschaft. Dies fand seinen Ausdruck in der am 15. Oktober 1923 dem Politbüro übergebenen »Erklärung der Sechsundvierzig«, in der 46 führende alte Bolschewiki wie Preobraschenski, Serebrjakow, Smirnow, Pjatakow und andere die Wirtschaftspolitik und noch mehr das Parteiregime scharf kritisierten. Das war der Beginn der Formierung einer Linken Opposition, die sich später zu einer Internationalen Linken Opposition (ILO) entwickelte.

      Inzwischen war ein weiterer Vorgang geschehen. In der Prawda vom 24. März 1923 wurde von Kamenjew erstmals der Begriff Leninismus gebraucht, verbunden mit dem Vorschlag, unter diesem Begriff Lenins Gedankengebäude in der Art eines Katechismus populärer Art zusammenzufassen. [46] Pierre Broué schreibt mit vollem Recht, solch eine Sache »wäre mit einem Lenin im vollen Besitz seiner Kräfte undenkbar gewesen. Bald sollte man sehen, dass dieser Begriff im Mund der Führungskräfte nur als Gegensatz zum ›Trotzkismus‹ – einem Fremdkörper in der bolschewistischen Partei – Sinn machte.« [47]

      Und in der Tat: nachdem es bei der Behandlung der Erklärung der 46 im Politbüro einiges Hin und Her gab, eröffnete Stalin in der Prawda vom 15. Dezember 1923 die Kampagne gegen Trotzki. Auf der 13. Parteikonferenz vom 16. bis 18. Januar 1924 werden die Auffassungen der Opposition als kleinbürgerliche verurteilt und im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen hieß der Generalnenner: Leninismus


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